Brigitte Kronauers anarchisches Frühstück. Betrachtungen zu "Wink"

Von Clarissa Höschel

Die Erzählung beginnt mit der Rede einer Ich-Erzählerinstanz, und zwar so unvermittelt, dass man weder weiß, ob es sich um einen inneren oder einen echten Monolog handelt, noch, ob dieser Monolog, wenn er denn gesprochen und nicht nur gedacht wird, in Gegenwart einer zweiten Person oder sogar mehrerer Zuhörer gehalten wird, und ob die Erzählerinstanz männlich oder weiblich ist.

Eine regelmäßig wiederkehrende Situation wird erzählt, das morgendliche Kaffee trinken und frühstücken, das sich in einer wohltuend-anarchischen Atmosphäre abzuspielen pflegt, denn die frühstückende Erzählinstanz distanziert sich von jedem, der dem freien Frühstücken Regeln überstülpen möchte – wen geht es was an, wird provokativ gefragt und dabei implizit gesagt, dass man – die Erzählerinstanz – durchaus willens ist, etwaige Benimm-Konventionen zu untergraben, und dies durchaus über das eigentliche Frühstück hinaus, denn die resolute Erzählerinstanz (ich doch nicht!) lässt sich nicht nur nichts vorschreiben, sondern auch nichts verbieten, zum Beispiel das Unterlegen des Frühstücks mit Opernarien anstelle der Morgennachrichten. Und selbst die Opernarien werden in ihrer Autorität untergraben, denn die Assoziationen, die die Erzählerinstanz von der Musik wecken lässt, sind etwas ganz anderes, als vom Inhalt erlaubt wird, das Verbotene also, das viel Schönere, das Eigentliche, das Ursprüngliche, nämlich das, was ich wirklich schon immer empfunden habe, und damit das Authentische.

Authentisch ist auch die schnell wachsende Rankpflanze, Cobaea scandens (vulgo Glockenrebe), die jedes Jahr aufs neue, und das bereits am März, die Küchentür zum Garten, die Schnittstelle von innen und außen, von Kultur- und Naturraum, mit ihren bis zu 6 m hohen, vollbelaubten Trieben begrünt und während ihrer sechsmonatigen, höchst aufwendig inszenierten Blütevorbereitung die Erzählerinstanz auch in diesem Jahr, einmal mehr, mit dem plötzlichen Auftreten der auffälligen Blütenknospen überrascht.

Erzählt wird also ein Frühstück an einem Frühsommermorgen im Juni, untermalt von Opernmusik, deren Libretto- diktat ignoriert wird, weil die frühstückende, Opernmusik hörende Erzählerinstanz just in diesem Moment die Blütenknospe bemerkt, deren Anblick in die Welt der Inszenierung entführt, einem Crescendo beiwohnt, das Cobaea scandens mit dem Anschwellen ihrer Knospe begleitet, bis diese, mit den ersten Tönen der Arie, zum Wunder der Blüte wird; modelliert und moduliert [...] in weißen und erblauenden Linien, in Bogen und Schwung und Raum herrlich geschweift [...] in der Farbe des tiefblausten Sommerhimmels [...] als wären Stunde und Tage ausgelöscht. (S. 89)

Doch dieser Moment der Ewigkeit vergeht, die Arie geht zu Ende, die Blüte ist verblüht, übrig bleiben ungeübte Proportionen, der Stimmbruch als Ende einer glockenhellen Kinderstimme. Doch auch der Stimmbruch ist nicht von Dauer, geht vorüber, mündet in eine neue Stimme, so wie die grüne Rakete auf ihrem grünen, fünffach gekerbten Sockel in eine neue Glockenrebe münden wird, begleitet von italienischen Opernarien.

Kronauers Geschichte ist innerhalb der Sammlung* insofern einzigartig, als es die einzige Geschichte ist, in der Musik, genauer Opernmusik zum ausformulierten, motivtragenden Element erhoben wird. Dabei ist die Arie als emotionaler Kraftakt der Oper der Blütezeit der Glockenrebe gleichgesetzt, während der vollständige Lebenszyklus dieser einjährigen Rankpflanze immer wieder mit der Musik italienischer Opern untermalt wird. Dass es sich tatsächlich um einen von der Erzählerinstanz mehrmals erlebten Zyklus handelt, lässt sich an den entsprechenden temporalen Deiktika ablesen, denn der Zyklus spielt sich auch in diesem Jahr ab und verhält sich wie jedesmal, wenn eines Tages überraschend die Knospe erscheint, sich diese weiterentwickelt bis ein Ballonbauch sichtbar wird und schließlich das Wunder beginnt, das eines Morgens wieder verschwunden ist. An welchem Punkt des Zyklus’ sich die erzählte Zeit situieren lässt, lässt sich demgegenüber an den Zeiten der Verbformen ablesen, die den Zyklus chronologisch greifbar machen: Viel zu früh [...] habe ich damit angefangen .... bis eines Tages ein altmodisches Ausgehtäschchen aus dem Blattwerk stand, meint einen Zeitraum der Vergangenheit, der bis zum Erscheinen der ersten Knospenausbildung reicht; die Weiterentwicklung zur zweiten Knospenphase steht demgegenüber bereits wieder, wie auch der Rest der Erzählung, im Präsens, sodass die erzählte Zeit mit der Zeit der zweiten Knospen- phase im Juni zusammenfällt.

Im Gegensatz zu anderen Texten der Sammlung wie Im Gebirg oder Die Wiese ergibt sich in Wink der Sprechakt nicht aus dem Zerfall, dem sonst üblicherweise die Kronauerschen Figuren ausgeliefert sind, sondern ganz im Gegenteil: die Sprecherinstanz wirkt außerordentlich vital, und das in einem zeitlosen Kontinuum. Der einzige Zerfall, der hier auszumachen ist, ist der der kurz zuvor so leidenschaftlich besungenen Blüte, doch auch dieser Zerfall wird überdeckt durch den neu entstehenden Samen, den die handelnde Figur begutachtet wie eine geheime Waffe, die sie aus ihrem Versteck schält, um sich damit dem Zerfallsprozess entgegenzustellen. Und dies gelingt auch, denn der Same gleicht einer Rakete, und ebenso, wie eine Rakete in der Lage ist, sich im wahrsten Sinne des Wortes über die Welt zu erheben, ist der Same in der Lage, den Zerfall zu überwinden, indem er eine neue Pflanze entstehen lässt.

Die Dynamik der Schöpfung als creatio continuo ist damit einmal mehr in den Pflanzen präsent, nicht aber in den Menschen, die sich in einigen Geschichten dieser Sammlung (Im Gebirg’ oder Die Wiese) in den Pflanzen auflösen, um ihrem eigenen Zerfall zu entgehen oder aber, und das tut die Erzählerinstanz in Wink, der creatio beizuwohnen mit einem neidisch-bewundernden Blick auf den sich aus dem Ausgehtäschchen hervorschiebenden hellgrünen, schwangeren Ballonbauch, alle Aufmerksamkeit erheischend als das einzig wichtige Lebensfaktum, verdammt! Muß das sein?

* Brigitte Kronauer, Die Tricks der Diva. Geschichten. Stuttgart 2004, S. 88-90 (= RUB 18334).