Ungekürztes Werk "Joseph" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 6)

und noch zerstreuter war als sonst und wohl zehnmal eine Näharbeit hervorzog und wieder weglegte.

Als wir zu Bett waren, Madame und ich, hörten wir, wie Steenwicks Tür aufgemacht wurde, dann ihn rasch über den Gang weg die Treppe hinuntergehen.

Es war nicht das erstemal, daß ich ihn so spät sein Zimmer verlassen hörte und eingeschlafen war, ohne ihn zurückkommen zu hören; aber nun bemerkte ich das erstemal, daß er viel schneller ging und seine Stiefel viel weniger knarrten als bei Tage.

Ich drückte die Kissen von meinem Ohr weg und horchte. Im selben Augenblick hörte ich auch Madame ihre Gardine zurückschieben und sich halb im Bette aufrichten. Unten im Hausflur schlich ein leises, behutsames Knistern; dann ward die Haustür erst halb leise, dann mit einem raschen Ruck völlig geöffnet, und dann fiel jenseits auf der Gasse ein Schlüssel aufs Pflaster.

Madame seufzte tief und murmelte: »Gott weiß, was man tun muß, schweigen oder sprechen.«

Ich fühlte einen plötzlichen Mut in mir und rief: »Nein, Madame, alles an den Papa sagen!«

Sie können sich den Schreck der armen Frau nicht vorstellen. »Stanzchen«, rief sie, »Stanzchen, schläfst du nicht?«

Und gleich darauf hörte ich sie bitterlich schluchzen. Mir wurde todangst. Ich wußte nicht, daß die arme Person, die in der Tat eine sehr schlechte Gesundheit und mit ihren achtundvierzig Jahren betrübte Aussichten für die Zukunft hatte, ihre ganze Hoffnung auf Herrn Steenwick setzte, der ihr so lange Bücher voll zarter Liebe, die sich nur durch Blicke und seine Aufmerksamkeiten, Blümchen und so weiter verriet, zugeschleppt hatte, bis sie sich um so mehr als halb verlobt ansah, da er ihr eine Scherbe mit einem Balsaminenstock überließ, den er müde war zu begießen und eben in den Stallhof tragen wollte, um ihn auszuschütten, und sie einmal in ­einem der Bücher an einer sehr bedeutsamen Stelle ein zufälliges Eselsohr fand.

Sie war sonst eine gute, ehrbare Person, aber Mynheer wissen wohl, der Ertrinkende hält sich an einem Strohhalm.

Als Madame sich ein wenig gefaßt, bat sie mich vom Himmel zur Erde zu schweigen und log mir sogar etwas vor von einer reichen Tante, die dem Kassierer oft große Geldgeschenke mache, aber mit so unsicherer Stimme, daß es selbst mir auffiel. Endlich versprach sie genau acht zu geben; sie werde ihr Gewissen sicher nicht mit einer so wichtigen Sache beschweren, obwohl schweigen sonst immer am geratensten sei, wo bei der Untersuchung doch unfehlbar nichts als Verdruß ohne Nutzen herauskomme und aller Schaden und Anfeindung auf den Ankläger zurückfallen würden.

»Hat der Herr denn Zeit zu untersuchen?« sagte sie; »fragt er je jemanden anderen als den Kassierer und die Haushälterin? Und wenn diese sprechen wollten, haben sie nicht hundertmal die Gelegenheit und die Macht obendrein? Auf Kleinigkeiten, ein paar Steinkohlen mehr oder weniger verbrannt, ein paar Flaschen mehr oder weniger getrunken, kommt es in einem solchen Hause auch gar nicht an; aber dies ist zu arg!«

»Schweig nur, Kind, ich will aufpassen, und wenn es mir vom Himmel auferlegt ist, daß ich mich daran wagen soll, dann, in Gottes Namen.«

Wenn ich bedenke, in welch betrübtem, herzzerreißendem Tone

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