Berolinismen in Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“
... un' kein Kranz nich'? ...
Berolinismen in Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ (1888)
Von Clarissa Höschel
1. Zur Einführung
Fontane und das Berlinerische
Fontane nennt das Berlinerische den „Jargon unserer Hauptstadt“, Willibald Alexis bezeichnet es als „Jargon aus verdorbenem Plattdeutsch und allem Kehricht der höheren Gesellschaftssprache“[1] und Ewald Harndt beschreibt seine Heimatmundart auf andere Art als etwas Besonderes: „Sie [die Berliner Mundart] ist keine reguläre, charakteristische Abwandlung des Hochdeutschen, sondern hat in ihrem niederdeutschen Kern des märkischen Platt, ein gut Teil fremdländischer Wörter und Redewendungen in sich aufgenommen …“[2] Damit ist das, was man heute unter echtem Berlinerisch versteht, das „Gemisch aus märkischer Bauerndrastik und französischem Esprit“[3], das sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und parallel zum zunehmend salonfähigen Hochdeutsch der gebildeten Kreise entwickelt hat. Auch Meyer beschreibt die Berliner Mundart als „mit verschiedenartigen fremden Bestandteilen versetzt“[4], was sie aus der Regelmäßigkeit anderer Mundarten heraushebt.
Fontane bedient sich des Berlinerischen, vor allem in seinen Berliner Romanen, um den Kontrast zwischen den gesellschaftlichen Schichten noch deutlicher hervortreten zu lassen und seine Figuren noch detailgetreuer zu zeichnen. So fällt in „Irrungen, Wirrungen“ auf, dass Lene nicht das sprachliche Niveau Bothos und der „besseren Gesellschaft“ aufweist, aber auch nicht so spricht, wie es den gesellschaftlichen Kreisen der Familien Nimptsch und Dörr entspricht. Somit gelingt Fontane zwar die Detailzeichnung von Personen anhand dialektaler Eigenschaften, als sprachlich korrekt und stringent gelten seine Dialekteinschübe allerdings nicht, wie die Forschungsliteratur nachweist. Fontane selbst ist sich dessen bewusst und setzt sich vielfach mit dem Thema auseinander, kommt aber selbst zu dem Schluss: „Es bleibt […] bei der bekannten Bildunterschrift: ‚Dies soll ein Baum sein.‘“[5]
2. Wortklassifizierungen
Nachdem das Vorkommen eines Berolinismus bei Fontane immer den Zweck verfolgt, eine bestimmte Person oder Situation zu charakterisieren, kann auf die Unterscheidung der kontextuellen Bedeutung verzichtet werden. Stattdessen wird für die Klassifizierung der gefundenen Wörter, Dialektpassagen und Sprichwörter vom Einfachen zum Komplexen vorgegangen, das heißt, das zunächst die Einzelwörter betrachtet werden, danach die Redewendungen und Sprichwörter und schließlich dialektale Abweichungen in Bezug auf die Grammatik des Hochdeutschen, um so einen möglichst komplexen Überblick über das Charakteristische der Berliner Mundart[6] zu geben.
3. Berolinismen
3.1: Berliner Verfärbungen hochdeutscher Wörter
Hierbei handelt es sich um die typisch berlinerischen Lautverschiebungen wie beispielsweise pf > p, pp oder t > d (vor allem im Anlaut).
Berolinismus |
Hochdeutsch |
phonetische Veränderung |
Kapitel |
Sprecher |
Altration |
Alteration, Aufregung |
(Auslassung) |
6 |
Frau Dörr |
orntlich |
ordentlich |
(Auslassung) |
13, 16 |
"Königin", Frau Dörr |
Frölen |
Fräulein |
äu > ö |
7 (2), 17 |
Alter Baron |
Puckel |
Buckel |
B > P |
1 |
Frau Dörr |
Jott |
Gott |
G > J |
1 |
Frau Dörr |
jrault |
grault, graut |
gr > jr |
13 |
Johanna |
behülflich |
behilflich |
i > ü |
3 |
Lene |
Marcht |
Markt |
k > ch |
3 |
Frau Dörr |
Borré |
Porree, Porrée, Lauch |
P > B |
2 (3) |
Erzähler |
Kopp, Köppe |
Kopf, Köpfe |
pf > pp |
1, 3 (2) |
Frau Dörr |
düchtig |
tüchtig |
t > d |
3 |
Frau Dörr |
dag |
Tag |
t > d |
3 |
Frau Dörr |
Bedrügerei |
Betrügerei |
t > d |
3 |
Frau Dörr |
dod |
tot |
t > d |
6, 19, 26 |
Frau Nimptsch |
Gleichgiltigkeit |
Gleichgültigkeit |
ü > i |
2 |
Erzähler |
3.2: Berliner Wörter
Diese Wörter sind der Berliner Mundart zuzurechnen und außerhalb dieses dialektalen Raumes nur bedingt oder gar nicht verständlich.
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
abgeäschert |
müde, abgearbeitet |
9 |
berlinsch |
berlinerisch |
3 |
blaffen > Hundegeblaff |
bellen |
1, 5, 16 |
Borsdorfer, was Borsdorfiges |
Apfelsorte mit kleinen braunen Warzen |
2 |
denn |
dann |
1 (2), 2, 3 (8), 4, 9, 10 (8), 13 (4), 16, 17, 18 (5) |
der richtige Berliner |
Anspielung auf das 1878 erschienene Buch von Hans Meyer: "Der richtige Berliner un Wörtern und Redensarten" |
2 |
drippen, drippeln |
tropfen |
3 |
drittehalb |
dreieinhalb |
17 |
Dutt, Haardutt |
Haarknoten |
8 |
Federfuchser |
verächtliche Bezeichnung eines Büroschreibers |
7 (5) |
fuffzig, Fuffzig jute |
Fünfzig Jahre |
1, 19, 26 |
Gilka |
Kümmelschnaps |
2 |
Grabscheit |
Spaten, Schaufel |
16 |
Grieben (frz. gribelettes) |
ausgebratene Speckwürfel |
3 |
Husche |
Regenguß |
3 |
Hutsche |
Fußbank |
1, 19 |
I (I, Gott bewahre) |
Ausruf der Verwunderung oder Abwehr |
2, 3 (3), 4, 9,13, 16, 17 (2) |
kakerlakig |
albinohaft, weißlich |
25 |
Kladderadatsch |
Geklirr, Krach, Skandal. Titel einer politischen Zeitschrift |
13 |
Knallerballer |
schlechter Tabak |
4 |
krakeelen |
schreien, Radau machen |
12 |
man, man bloß |
nur |
1, 3 (3), 10, 17, 21 (2) |
Murks |
Misswuchs, Schlechtgewachsenes |
3 (2) |
mutterwindallein |
mutterseelenallein (aus frz. moi tout seul) |
11 |
Patsche, patscheln > in der Patsche stecken |
Hand, mit der Hand berühren > in Schwierigkeiten sein |
4, 13 |
pätscheln |
rudern (lautmalerisch) |
13 |
plätten, Plätteisen, Plättbrett, Plättofen, Wasch- und Plättefrau |
bügeln |
3 (6), 4 |
Plumpe (ostmitteldt.) |
Pumpe |
19 |
Porrée, Borré |
Lauch |
2 (3) |
puppern |
schlagen, klopfen, zittern |
9 |
rapschen |
raffen, zusammenraffen |
3,4 |
Reißen |
rheumatische Schmerzen |
17 |
s. verplempern |
s. unbedacht verloben, s. unnütz verbrauchen |
7 |
Schapp ( niederdeutsch) |
Schrank |
10 |
Schlag |
Schlaganfall |
3 (3) |
schmooken, Schmok |
rauchen, Rauch |
4 |
Schnack (norddeutsch) |
Unterhaltung, Plauderei |
6 |
Schrauberei |
Neckerei |
18 |
schuddern |
schaudern, frösteln |
4 (2) |
schülbern, abschülbern |
s. häuten |
12, 25 |
schunkeln |
schaukeln |
3 |
simpern |
einfältig vor sich hin reden |
4 |
stappsen |
hineintappsen |
19 |
Stürze |
als Wärmflasche verwendeter Kochtopfdeckel |
16 (2) |
Verbringerei |
Prasserei, Verschwendung |
3 |
weimern |
jammern |
17, 19 |
Weiße |
Berliner Weißbier aus Weizen- und etwas Gerstenmalz, stark kohlensäurehaltig, alkoholarm |
2, 12 |
Witmann |
Witwer |
13 |
Wrasen |
Dampf, Wasserdampf |
1, 4 |
Sonderfall: trotzdem statt obwohl
Die Verwendung von trotzdem statt obwohl ist weniger als Berolinismus denn als eine stilistische Eigenart Fontanes zu deuten und bedürfte einer genaueren Untersuchung. Auffällig ist aber bereits jetzt, dass „trotzdem“ insgesamt 16 Mal vorkommt, davon 9 Mal in der Bedeutung von „obwohl“ (wobei das Wort „obwohl“ selbst auch einmal verwendet wird) und 7 Mal in der eigentlichen Bedeutung. Dies könnte darauf hindeuten, dass Fontane tatsächlich ganz bewusste stilistische und/oder inhaltlich-kontextuelle Unterschiede macht.
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
trotzdem statt obwohl |
obwohl |
1 (2), 5, 6, 10, 14, 17 (2) |
Erzähler, Lene, Botho |
trotzdem in korrekter Bedeutung |
trotzdem |
8, 14, 16, 17, 22, 23, 26 |
Kavalier, Erzähler |
obwohl |
obwohl |
13 |
Erzähler |
3.3: Berliner Redewendungen
Diese Redewendungen werden ausnahmslos der niederen Bevölkerungsschicht in den Mund gelegt und reflektieren das Plastisch-Drastische, das Direkte und das Lebendige einer Mundart. Von den insgesamt 15 Wendungen kommen lediglich 2 auch in anderen Werken vor, die restlichen 13 werden ausschließlich in „Irrungen, Wirrungen“ verwendet.
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
nich hü un nich hott |
weder das Eine noch das Andere |
3 |
Frau Dörr |
hat's denn gefleckt? |
hat es sich gelohnt? |
3 |
Herr Dörr |
da helfen keine Sperenzchen |
da hilft kein Sich-Sträuben |
17 |
Frau Dörr |
es ist zum Kattol'sch-Werden/ katholisch werden |
es ist zum Verrücktwerden |
17 |
Frau Dörr |
hast du nich' gesehen |
so etwas hast Du noch nicht gesehen |
19 |
Frau Dörr |
lapp und schlapp |
weich und nicht mehr so prall |
19 |
Frau Dörr |
auf Wilmersdorf zu |
in Richtung Wilmersdorf |
1 |
Frau Nimptsch |
im Vollen sein |
gut genährt sein |
1 |
Frau Dörr |
im Gewicht fallen |
gut genährt sein |
1 |
Frau Dörr |
es schämt mir immer noch |
es geniert mich, ich schäme mich |
1 |
Frau Dörr |
kräht nich Huhn, nich Hahn danach |
danach kräht kein Hahn |
2 |
Herr Dörr |
der muß dran glauben |
dem geht es ans Leben |
3 |
Herr Dörr |
ne kleine Leiche |
ein kleines Leichenbegräbnis |
22 |
Friedhofswärter |
das is nich von umsonst |
das gibt es nicht umsonst, das kostet etwas |
21 |
Kutscher |
ne Angst haben |
Angst haben, s. Sorgen machen |
10, 19 |
Frau Nimptsch |
3.4: Wortbildungen
Das Berlinerische weist aufgrund des ungewöhnlich großen Einflusses anderer Sprachen und Sprachelemente, besonders des Französischen, eine auffallend große Zahl an Wortneubildungen auf, die in den seltensten Fällen als strenge Analogismen entstehen, sondern oft auf ironisch-humorvolle Weise mit dem vorhandenen Vokabular umgehen und zum Teil recht willkürliche Wortneuschöpfungen entstehen lassen.
Adjektive
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
schimpfierlich |
zu: schimpfen, schelten |
1 |
Frau Nimptsch |
anziehlich |
zu: anziehen, s. kleiden |
1 |
Frau Dörr |
schrumplich, schrumplig |
runzlig |
2 |
Frau Dörr |
immortellig |
nach Immortellen (von frz. immortel): Katzenpfötchen, Strohblumen oder andere nicht welkende Blühpflanzen |
10 |
Frau Nimptsch |
bälder (Komparativ von bald) |
früher, eher |
13 |
"Königin" |
unterhaltlich, ununterhaltlich |
unterhaltsam |
17, 18 |
Erzähler |
spielrig |
spielerisch, verspielt, wenig ernsthaft |
17 |
Erzähler |
Adverbien
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
balde |
bald |
3 |
Frau Dörr |
mehrstens |
meistens |
3 (2) |
Frau Dörr |
allens |
alles |
21 |
Kutscher |
Substantiv- und Namenserweiterungen
Eine weitere, typisch Berliner Eigenart ist die Erweiterung von Nomen und Namen, die sich durch diese Erweiterung dem Sprachfluss besser anpassen.
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
Stückenzeug |
Stückzeug |
3 |
Frau Dörr |
die Gärtners |
die Gärtner |
3 |
Frau Dörr |
Musike |
Musik |
21 |
Kutscher |
Dörren |
Dörr |
1 (2) |
Frau Dörr |
Büchseln |
Karl Büchsel (1803-1889), Generalsuper-intendent und Pfarrer der Matthaikirche |
1 |
Frau Dörr |
Lenen |
Lene |
4, 16, 19, 20 |
Frau Dörr |
Leneken |
Lene |
3 (3), 4 (2), 16 |
Frau Dörr |
Mischkomposita
Typisch für das Berlinerische sind auch bilinguale Mischkomposita, bei denen ein deutsches Wort mit einer französischen Endung versehen wird. In „Irrungen, Wirrungen“ findet sich davon allerdings nur ein einziges Beispiel.
Berolinismus |
Zusammensetzung |
Bedeutung |
Kapitel |
Sprecher |
Stellage |
stellen + frz. Suffix |
Gestell |
3 |
Erzähler |
3.5: Grammatische Veränderungen
Genitivsubstitution
Der Genitiv ist im Berlinerischen praktisch nicht gebräuchlich und wird entweder mit von + Akkusativ oder mit einem Possessivpronomen ausgedrückt. Diese Umschreibungen gelten im Hochdeutschen als nicht korrekt.
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
mit Dörren seinen Hut |
mit Dörrs Hut |
1 |
Frau Nimptsch |
der Lene ihren Baron |
Lenes Baron |
1 |
Frau Dörr |
Bollmann seiner |
Bollmanns Hund |
2, 3 |
Herr Dörr |
Akkusativ statt Dativ
Dativ und Akkusativ werden im Berlinerischen nicht unterschieden („Akkudativ“); lediglich ein „Dativ-e“ (dem Gelde) verweist manchmal auf den dritten Fall.
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
wie mit'n Blumenkohl |
wie mit dem Blumenkohl |
3 |
Frau Dörr |
mit die Hühner |
mit den Hühnern |
4 |
Frau Dörr |
das kommt von's Blut |
das kommt von dem Blut |
16 |
Frau Dörr |
runter mit's Rollo |
runter mit dem Rollo |
16 |
Frau Dörr |
von die Männer |
von den Männern |
16 |
Frau Dörr |
nach'n Doktor schicken |
nach dem Doktor schicken |
16 |
Frau Dörr |
das mit das Konventikelsche |
das mit dem Konventikelschen |
17 |
Frau Nimptsch |
er ist von's Land |
er ist vom Land |
21 |
Kutscher |
von's Schloß |
von dem Schloß |
1 |
Frau Nimptsch |
in Stich gelassen |
im Stich gelassen |
1 |
Frau Nimptsch |
bei'n Halteplatz |
bei dem Halteplatz |
21 |
Kutscher |
immer von's Beste |
immer vom Besten |
22 |
Kutscher |
Wen soll es schaden? |
wem soll es schaden? |
13 |
"Königin" |
Dativ statt Akkusativ
(wie oben)
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
Hab' Ihnen schon öfter gefahren |
Ich habe sie schon öfter gefahren |
21 |
Kutscher |
Auslassen von Determinanten
Hier werden, i. d. R. im zweiten Satzteil oder in einem Satz, der sich auf den vorangegangenen bezieht, die zuordnenden Determinanten weggelassen. Durch den Kontext bleibt zwar der Bezug klar, der so verkürzte Satzteil ist jedoch grammatisch unvollständig.
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
Und drum bin ich auch in die Kirche mit ihm gefahren und nich bloß Standesamt |
in die Kirche und nicht nur zum Standesamt |
1 |
Frau Dörr |
So jung kommen wir nich wieder zusammen. Un is auch eigentlich ganz unmöglich |
das ist auch eigentlich ganz unmöglich |
10 |
Frau Dörr |
Und deshalb ist es ganz richtig, daß wir so jung nich wieder zusammenkommen. Und muß sich jeder gefallen lassen |
das muß sich jeder gefallen lasse |
10 |
Frau Dörr |
Und die Jugend is glücklich un is auch gut so un soll so sein |
und das ist auch gut so und soll auch so sein |
10 |
Frau Dörr |
Ihren lieben Mann habe ich eben weggehen sehen. Und muß auch |
Das ist auch richtig so |
1 |
Frau Nimptsch |
Bei Standesamt reden sie immer noch. |
Auf dem Standesamt |
1 |
Frau Dörr |
Sie haben sie ja bloß angenommen un is nich ihr eigen Fleisch und Blut |
Sie ist nicht ihr eigenes Fleisch und Blut |
1 |
Frau Dörr |
doppelte Verneinung
Berolinismus |
Hochdeutsch |
Kapitel |
Sprecher |
un' kein Kranz nich'? |
Und kein Kranz? |
26 |
Frau auf dem Friedhof |
4. Zusammenfassung
Das Berlinerische bei Fontane ist, wie die Sekundärliteratur nachweist und wie es auch Fontane selbst letztendlich einräumt, in sich nicht stringent und sprachlich rein, kann also nicht als Basis für dialektale Studien verstanden werden. Dies liegt zum einen daran, dass sich ein Dialekt – der Inbegriff des Spontanen, Lebendigen, Mündlichen – nur sehr schwierig literarisch ausfeilen lässt und zum anderen an der Tatsache, dass Fontane selbst nicht von klein auf und ausschließlich mit dieser Mundart aufgewachsen ist.
Vergleicht man die Berolinismen aus „Irrungen, Wirrungen“ mit dem bereits erwähnten Buch von Hans Meyers (vgl. Anm. 6), so stellt sich schnell heraus, dass Vieles, was bei Meyer als typisch Berlinerisch gilt, bei Fontane gar nicht vorkommt (ick, icke für ich; mia/ ma für mir), nicht durchgängig umgesetzt ist (un‘ für und; is‘ für ist) oder viel zu selten verwendet wird (jr für gr, das nur ein einziges Mal vorkommt).
Die Absicht Fontanes, den Dialekt zur Detailzeichnung bestimmter Personen und Personengruppen einzusetzen, hat er allerdings verwirklichen können, denn er hat es in „Irrungen, Wirrungen“ geschafft, auf der Figurenebene drei eindeutig unterscheidbare Sprachebenen zu schaffen, die genau die gesellschaftlichen Unterschiede deutlich machen, auf die es dem Erzähler ankommt. Der Sprache der besseren Gesellschaft (Botho) steht die des einfachen Volkes (Frau Dörr, Frau Nimptsch) gegenüber, wohingegen Lene, der niederen Gesellschaft angehörend, durch ihre Sprachebene zwischen den beiden vorgenannten, alleine schon durch diese Tatsache ihre Sonderstellung zwischen beiden Kreisen bestätigt. Geht man einen Schritt weiter und betrachtet nicht nur die Sprache, sondern auch das in der jeweiligen Sprache Gesprochene, stellt man fest, dass sich Lene auch intelektuell von ihrer sozialen Umgebung unterscheidet, dass sich also innerhalb der dargestellten Welt des Romans die sprachlichen Eigenheiten der Figuren sehr wohl nahtlos in den fiktionalen Figuren- und Handlungskontext einfügen und damit ihren Zweck mehr als erfüllen.
[1] Beides zitiert nach Harndt, Ewald: Französisch im Berliner Jargon. Berlin 1998, S. 11.
[2] Harndt, a. a. O., S. 8.
[3] Harndt, a. a. O., S. 33.
[4] Meyer, Hermann: Das Zitat in der Erzählkunst. Stuttgart 1961, S. 37.
[5] Brief Fontanes an Emil Schiff vom 15. Februar 1888, zitiert nach Keitel/ Nürnberger: Theodor Fontane. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Band 12: Irrungen, Wirrungen. Frankfurt/ Berlin/ Wien 1976, S. 75.
[6] Als Basis zur Beurteilung des Berlinerischen wurde dabei herangezogen: Hans Meyer: Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten. München 1965.