Interpretation "Hyperion" von Friedrich Hölderlin

"Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab."

Die pessimistische Vision menschlicher Bestimmung, die in der letzten Strophe von Hyperions berühmtem Schicksalslied heraufbeschworen wird, ist charakteristisch für eine Facette im Werk Friedrich Hölderlins; was hier über das gesamte Menschengeschlecht gesagt wird, findet, bezogen auf die persönliche Glückserwartung des einzelnen, eine Entsprechung im Gedicht Hälfte des Lebens, in welchem er das lyrische Ich ausrufen lässt: "Weh mir, wo nehm ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein / und Schatten der Erde? / Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen."

In beiden Fällen steht die zitierte letzte Strophe in erschütterndem Kontrast zum Vorangegangenen: hier das Bild der "holden Schwäne", die "trunken von Küssen" ihr "Haupt ins heilignüchterne Wasser" tunken, dort die Welt der Götter, die "droben im Licht" wandeln, "schicksallos", deren "selige Augen [...] in stiller ewiger Klarheit" blicken. Beherrschend ist in beiden Texten das Gefühl von Verlust, von Ausgeliefertsein und von Einsamkeit.

Dies ist ein zentrales Motiv Hölderlinscher Dichtung. Die reale Welt im Zeitalter gesellschaftlichen Umbruchs und naturwissenschaftlich-rationalistischer Expansion wird als Ort der Gottesferne erlebt, "Seit die gewurzelte / Ungestalte, die Furcht Götter und Menschen trennt" (Der Abschied, 2. Fassung). Ähnlich wie bei Schiller wird das antike Griechenland zum Zeitalter der Einheit von Natur und Kultur, Seele und Geist, Innen- und Außenwelt; doch während es bei letzterem überwiegend als ahistorischer, idealer Gegenentwurf fungiert, sieht Hölderlin darin – und hier kommt er den Romantikern nahe – eine untergegangene Epoche, zu der die Gegenwart keinen Zugang mehr hat: "Zu wild, zu bang ists ringsum, und es / Trümmert und wankt ja, wohin ich blicke" (Der Zeitgeist).

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