Wenn die Fachwissenschaft irrt: Georg Büchners "Woyzeck"

Wie
geht man eigentlich mit Fehlern der Fachwissenschaft um? Endlose Reproduktion, steht ja so in den Schulbüchern? "Eyes wide shut?" Warum fällt niemandem auf, dass mit dem Sozialdrama "Woyzeck" etwas nicht stimmen kann. Und was ist mit einer Fachwissenschaft los, die verstockt und lernunfähig ist?

Aber
zur Sache. Wieso geistert ein Narr durch ein vermeintliches Sozialdrama (und zwar durch drei der vier Handschriftenentwürfe)? Was soll die Märchenparabel über das einsame Kind? - In dieser Fasssung gibt es noch keinen gemeinsamen Sohn. Warum gehen ausgebildete Germanisten in Anbetracht einer Parabel in einem Drama (an exponierter Position!) nicht systematisch auf die Funktion indirekter Rede in einem Text ein? (Wahrscheinlich haben sie es in ihrer Ausbildung nicht gelernt.) Übrigens ist ein zeitgenössischer Tambourmajor (genauso wie ein Unteroffizier) ein ebenso armes Schwein wie ein einfacher Soldat, er ist keinen Deut besser gestellt und hat selbstverständlich aufgrund seiner Position auch kein "schön Gold". Naja und das wird am Ende von Woyzeck im Mutters Bibel entdeckt. Schwant hier jemandem etwas?

Warum
werden diese Defizite dann durch den Rekurs auf den historischen Fall (es sind aber mindestens drei) zugekleistert, ohne dass mal jemand bemerkt, dass jeder anspruchsvolle (klassische) Autor auf der Selbstständigkeit seines Textes bestehen würde (und Büchner hat sich mit Shakespeare verglichen). Ohne mit der Wimper zu zucken schwemmt man einen schwierigen Text mit anderen Sachtexten auf, ohne dass man darüber Rechenschaft ablegt. Freilich macht es die Büchner-Forschung auch so, aber dadurch wird es nicht richtiger.

Eine
kompetente Didaktik müsste vor dem Lesen des "Woyzeck" (es müssen nicht die Handschriftenentwürfe sein) über die Allegorie in der Literatur bzw. klassischen Rhetorik sprechen, die in der Romantik durchaus beliebt war (Goethe, Tieck, Novalis). Ein Seitenblick auf Symbol und Märchenforschung wäre dabei nicht verkehrt, dann würde man vielleicht mit der Märchenparabel klarkommen (Dreh und Angelpunkt bei Büchner sind die "kleinen goldenen Mücken", siehe "Dantons Tod") Beispielsweise ist "Sonne" (Stichwort "golden") bei Büchner meist chiffriert. (Wie, legt er selbst offen, auch im "Woyzeck".)

Ich
habe noch nie verstanden, wieso seriöse Erwachsene auf die Idee kommen können, eine soziale Deprivation rechtfertige einen veritablen Lustmord (und eine Mischung aus Hinrichtung und Menschenopfer). Deswegen hat der eine oder andere aufmerksame Bearbeiter oder Kritiker auch so seine Schwierigkeiten mit dem Mord auf der Bühne (ursprünglich an "Margreth" vgl. Faust I!). Der Witz bei einer sorgfältigen Analyse der Mehrdeutigkeiten bei Büchner ist, dass das nicht auf Haarspaltereien hinausläuft, sondern einen höchst erklärungsbedürftigen Mord beleuchtet.

Verfasst von Christian Milz