Interpretation "Rheinsberg" von Kurt Tucholsky
Ein Bilderbuch für Verliebte nannte Tucholsky sein 1912 veröffentlichtes Erstlingswerk Rheinsberg im Untertitel. Im wilhelminischen Deutschland war es hinreißend neu, wie unernst, unsentimental, unpathetisch Tucholsky hier über die Liebe schrieb und ganz nebenher Erotik und Sexualität als ihre selbstverständlichen Zutaten darstellte.
Die Sommertage von Wolfgang und Claire sind ausgefüllt mit harmlosen Vergnügungen – Spaziergängen und Bootsfahrten, Schlossbesichtigung und Faulenzen – und durchwirkt mit dem Geplänkel der Verliebten. All dies wird heiter, verspielt und ungezwungen beschrieben, im Grunde jedoch ist alles Staffage: das Schloss und die Stadt, aber auch der Inhalt der Gespräche. Dem Erzähler der Geschichte geht es um ein (modernes) Lebensgefühl: „Leuchtender, leuchtender Tag! – Da-sein, voraussetzungsloses Dasein und immerfort wissen, daß eine ist, die gleich fühlt, gleich denkt …“ Dieses ganz aufs Gegenwärtige gerichtete Glück wird möglich durch das unzensierte sinnliche Erleben und die Kraft der Phantasie. Die Liebenden albern und tändeln herum, erfinden sich in wechselnden Rollen immer wieder neu und unterhalten sich in einer „zurechtgemachten“ Privatsprache, mit der sie sich spielerisch verständigen: „»Weißt du, lieber reise ich mit einem Flohzirkus wie mit dir«. – »Als, Claire, als mit dir. « – »Ach Gott, konnste auch besser mir nicht zu bekorrigieren zu gebrauchs gehabs habs! Ich spreche dir das schiere Hochdeutsch! «“ Diese Phantasiesprache hatte Tucholsky seiner Freundin Else Weil – Vorbild für die Claire in Rheinsberg – abgelauscht, mit der er 1911 ein paar Tage in Rheinsberg verbracht hatte.
Die Themen, die Tucholsky zeitlebens beschäftigen, sind auch in Rheinsberg schon vorhanden, doch zeigt sich der später so bissige Satiriker Tucholsky hier noch als milder Spötter: Die verstaubte Preußenherrlichkeit des „zweiten Friedrich“ und die Steifheit eines bigotten Bürgertums werden kontrastiert mit der Frische und Spontaneität des jungen Paares. Respektlos und selbstironisch erkunden die Verliebten die vom modernen Berliner Großstadtleben so unberührt erscheinende Provinzstadt, machen sich einen Spaß daraus, sich als Ehepaar Gambetta durch das Schloss führen zu lassen und amüsieren sich prächtig über die würdevolle Preußenverehrung des Kastellans: „ und in diesem Korbe habe das Windspiel geschlafen. Das Windspiel – man wisse doch hoffentlich …?“ Oder Sie spielen ein Geschwisterpaar wie aus dem Märchen (adlig und verwunschen), das sich von der staubtrockenen Medizinstudentin Lissy Aachner die Welt erklären lässt.
Den Zauber und die Poesie erhält Rheinsberg jedoch allein durch den Ton, den Tucholsky anschlägt. Er lotet die Möglichkeiten der Sprache aus, abseits vom reinen Mitteilungswert das große Gefühl, das Ernste unter dem Deckmantel der Tändelei zu verbergen. Die Gespräche der Liebenden bestehen aus Andeutungen, halb ausgeführten Sätzen oder Geschichten, wirklichen oder vorgetäuschten Missverständnissen, phantastischen Sprachspielereien und offenbaren so ein Einverständnis miteinander, das eben zuerst ein nichtsprachliches ist. In diesem Sinne kommentiert der Erzähler: „Wozu noch sprechen? – Wir wissen ohnehin. Wozu versichern, betonen? – Wir wissen, wir wissen. Und das Erlebnis und ich und sie – das gibt einen Klang, einen guten Dreiklang.“
Claire und Wolfgang sind ein modernes Paar: sie fotografieren, gehen ins Kino und lassen sich treiben. Rheinsberg bietet nur die Kulisse, in der zwei grandiose Mimen das Schauspiel ihrer jungen Liebe geben. Über die verkrusteten Traditionen und biederen Verhaltensweisen, die ihnen in der verschlafenen Welt von Rheinsberg begegnen, spötteln sie und sind doch ganz einverstanden mit sich und der Welt: „Es war wohl mehr die allgemeine Freude, am Leben zu sein. Zwischen den Vergangenen und denen, die noch kommen würden – jetzt waren sie an der Reihe – hurra! –“