Biographie Kurt Tucholsky
Von Helga Gläser
Seine Widersprüchlichkeit hat Zeitgenossen wie die Nachwelt gleichermaßen polarisiert, in seiner Wirkung wie in seiner politischen Haltung ist Kurt Tucholsky bis heute umstritten. Die Vorwürfe zielen zum einen darauf ab, dass Tucholsky mit seiner unnachgiebigen Kritik – nicht zuletzt an den Sozialdemokraten – dazu beigetragen habe, den Schulterschluss der demokratischen Kräfte der Weimarer Republik zu verhindern, und dass er in vielen Phasen seines Lebens eine opportunistische Haltung in politischen Fragen eingenommen habe. Auch sein Verhältnis zum Judentum hat Anstoß erregt, ihm wurde gar „jüdischer Selbsthass“ unterstellt. Einig ist die Nachwelt sich nur in einem: Tucholsky war ein brillanter Stilist, und das in den unterschiedlichsten Genres. Sein Können zeigt sich in Satiren, Rezensionen, Gerichtsreportagen, politischen Grundsatzartikeln ebenso wie in Liedern und Gedichten, in Porträts von Zeitgenossen, Alltagsbeobachtungen ebenso wie in seinen Erzählungen.
Kurt Tucholsky wurde am 9. Januar 1890 als ältester Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Berlin geboren. Der Vater Alexander Tucholsky, der 1905 starb, war Direktor bei einer Berliner Bankgesellschaft. 1893 zog die Familie für einige Jahre nach Stettin, ab 1899 lebten die Tucholskys wieder in Berlin, in der Dorotheenstr. 11. Während Tucholsky seinen musisch begabten Vater sehr liebte, war das Verhältnis zu seiner Mutter Doris zeitlebens schwierig. Die familiäre Situation war von Streitereien und Unfreiheit geprägt. Tucholsky und seine beiden jüngeren Geschwister litten unter der Herrschsucht und Gefühlskälte ihrer Mutter, die auf Unterordnung pochte und die Familie mit ihren Launen tyrannisierte. In einer Besprechung einer Theateraufführung (Rosa Bertens, Schaubühne) hat Tucholsky 1913 das eindrucksvolle Porträt einer Familie gezeichnet, das offensichtlich von eigenen Erfahrungen inspiriert war, auch an der tyrannischen Leiterin des Kinderheims in Schloß Gripsholm lassen sich Züge seiner Mutter ausmachen. Das Verhältnis des „Erotomanen“ Tucholsky, das zwischen Anbetung und Furcht oszillierte, war offensichtlich stark von der schwierigen Mutterbeziehung geprägt.
Ordnung, Gehorsam und das Brechen des Eigensinns als Erziehungsideale begegneten Tucholsky nicht nur in der familiären Umgebung, auch seine Schulzeit war entscheidend von diesen Erfahrungen geprägt. Alle Erziehungsgewalt war darauf gerichtet, Phantasie und eigene Impulse zu unterdrücken und in ein starres Korsett von Konventionen und Mittelmäßigkeit zu pressen. Der rebellische Tucholsky hatte seine Schwierigkeiten mit diesem System und bereitete sich schließlich mit einem Privatlehrer auf das Abitur vor, das er 1909 als Externer am Königlichen Luisen-Gymnasium ablegte. Noch im selben Jahr nahm Tucholsky ein Jura-Studium an der Berliner Universität auf. Er studierte in Berlin und Genf, besuchte auch Vorlesungen in Nationalökonomie und Germanistik, doch der akademische Betrieb war nicht nach seinem Geschmack, herrschte hier doch derselbe preußisch-reaktionäre Geist, wie er ihn im Schulalltag kennen gelernt hatte. Als Tucholsky die Universität 1915 mit einem Doktortitel in Jura verließ (seine juristische Dissertation war erst im dritten Anlauf anerkannt worden), hatte er sich schon für eine journalistische Laufbahn entschieden.
1907 hatte die Satirezeitschrift „Ulk“ den ersten Text von Tucholsky gedruckt (Märchen), in den folgenden Jahren waren einige kleinere Artikel und Gedichte entstanden. Doch Tucholskys eigentliche Karriere begann, als er ab 1911 regelmäßig Artikel für den sozialdemokratischen „Vorwärts“ schrieb. Für die SPD engagierte er sich auch im Wahlkampf. Mit der Sommergeschichte Rheinsberg (1912) gelang Tucholsky schließlich ein erster Erfolg als Schriftsteller. Mit seinem leichten Ton und dem wohlwollenden Spott traf das Buch den Ton der Zeit und hatte vor allem Resonanz beim modernen Publikum. Als verkaufsfördernde Maßnahme richteten Tucholsky und sein Freund Kurt Szafranski, der Rheinsberg illustriert hatte, für einige Wochen eine „Bücherbar“ auf dem Kurfürstendamm ein, in der es für jedes gekaufte Buch einen Schnaps gratis gab. Schon dieser für Tucholsky typische „Studikerunfug“, der zu einer Anekdote der Literaturgeschichte wurde, polarisierte die Öffentlichkeit.
Im Januar 1913 lernte Tucholsky den Herausgeber der „Schaubühne“, Siegfried Jacobsohn, kennen, der zu seinem wichtigsten Mentor und Lehrmeister im journalistischen Handwerk werden sollte. Zunächst verstand sich die „Schaubühne“, Ende 1918 in „Weltbühne“ umbenannt, in erster Linie als Theaterzeitschrift, und Tucholsky schrieb vor allem Rezensionen von Büchern, Theater- und Kabarettaufführungen. Da er bald zum wichtigsten Mitarbeiter wurde und für jede Ausgabe mehrere Beiträge verfasste, benutzte er Pseudonyme – zunächst die Namen Theobald Tiger, Peter Panter und Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser wurde 1918 erfunden. Jedes der Pseudonyme hatte einen charakteristischen Ton und ein „Spezialgebiet“. Das Spiel mit wechselnden Identitäten entsprach wohl ebenfalls einem tiefsitzenden Bedürfnis Tucholskys, der auch in seinen privaten Beziehungen gerne verschiedene Namen und Rollen annahm.
Am Vorabend des Ersten Weltkrieges engagierte sich Tucholsky gegen die zunehmend nationalistische Hysterie und den Chauvinismus, mit dem der Erste Weltkrieg geistig vorbereitet wurde. Auch von ihm geschätzte Literaten und Künstler stimmten in das Kriegspathos mit ein und beschworen Vaterland und Heldentod. Ihnen bescheinigte er den „Seelenzustand durchgegangener Pferde“.
Tucholsky selbst wurde 1915 eingezogen. Er tat in Kurland Dienst als Armierungssoldat, später als Kompanieschreiber. Ab Herbst 1916 wurde ihm die Redaktion der Feldzeitung „Der Flieger“ anvertraut. Von rechten Kritikern wurde Tucholsky später vorgehalten, er habe sich im Krieg gedrückt und bei Vorgesetzten eingeschmeichelt. Dieser Vorwurf des Opportunismus sollte sich noch häufig wiederholen. Tatsächlich war seine Haltung im Krieg nicht so „lupenrein“, wie seine später so hasserfüllten Artikel gegen das Militär vermuten lassen könnten: Einerseits lehnte er den Krieg ab, andererseits suchte er seinen Vorteil, passte sich an und spielte sogar mit dem Gedanken an eine militärische Laufbahn. Seine Attacken gegen Offizierswillkür und korruptes Kastendenken beruhen vielleicht zu einem Teil auf der Erfahrung der eigenen Verführbarkeit, so Tucholskys Biograf Michael Hepp.
In die Anfangsjahre der Weimarer Republik fällt Tucholskys produktivste und widersprüchlichste Zeit. Von 1918 bis 1920 war er Chefredakteur des „Ulk“, der Beilage des Berliner Tageblattes, dem nun das Pseudonym Theobald Tiger vorbehalten blieb. Gleichzeitig verfasste er Beiträge – mit zum Teil völlig konträrem Inhalt – für die Weltbühne und andere Zeitungen und schrieb Gedichte und Chansons für Kabarett und Revue, etwa für das Kabarett „Schall und Rauch“. 1919 und 1920 erschienen erste Sammlungen seiner Artikel und Gedichte in Buchform.
In der verworrenen politischen Situation unmittelbar nach Kriegsende versuchte Tucholsky schreibend seine Position zu bestimmen: Er wetterte gegen Militarismus und Untertanengeist, blieb gleichzeitig skeptisch gegenüber dem Programm der Spartakisten. Tucholsky hat sich nie von einer politischen Linie vereinnahmen lassen, als „entlaufener Bürger“ fühlte er sich einer kritischen Rolle verpflichtet, die politische Haltungen an moralischen Kategorien maß und Gefälligkeitsdenken ausschloss. Widersprüchlich ist sein kurzes, finanziell sehr lukratives Engagement als Redakteur des antipolnischen Hetzblattes „Pieron“ 1920/21, das von der Reichsregierung unterstützt wurde, um auf die Volksabstimmung über den Verlauf der deutsch-polnischen Grenze in Oberschlesien Einfluss zu nehmen. Später distanzierte sich Tucholsky von seiner Haltung und seinen damals erschienenen „dümmsten Arbeiten“, er habe damals „nichts verstanden“. Wegen dieses Engagements durfte Tucholsky nicht mehr für die Zeitschriften der USPD schreiben, deren Mitglied er seit 1920 war.
Entschieden indes war Tucholsky in seiner Ablehnung des Krieges und der Überzeugung, dass sich die Republik nur dann erfolgreich behaupten könne, wenn demokratischer Geist die Traditionen des Militarismus und des Untertanengeistes besiegt hätte. In der ersten Jahren der Republik wurde ihm die „Weltbühne“ zum Forum, in der er in scharfer Form diese verheerende Hypothek des Kaiserreiches kritisierte, seine wichtigsten Arbeiten erschienen in dieser Zeit: in seinen Artikeln zum Militär (u.a. die Militaria-Serie von 1919) prangerte er die Heuchelei und das falsche Pathos des preußischen Militärs an, in seinen Artikeln zur Justiz führte er eine von Standesdünkel und verlogenem Rechtsverständnis geprägte Gerichtsbarkeit vor. Tucholsky produzierte in diesen Jahren ungeheuer viel – allein 90 Artikel erschienen 1920 unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel – und wurde zu einem der einflussreichsten Publizisten der Weimarer Republik.
Tucholsky bezog Stellung zu den politischen Tagesereignissen und attackierte insbesondere die lauen Reaktionen der Justiz auf die politisch motivierten Morde und Attentate (Rathenau, Harden). Zugleich ging er mit der zögerlichen Haltung vieler Politiker zu Gericht, die eindeutige Stellungnahmen und Maßnahmen zum Schutz der Republik scheuten. Dass er sich mit seinen teils satirischen, teils bitterbösen Attacken bei den nationalen und nationalistischen Parteien unbeliebt machte, nimmt nicht wunder, doch auch der SPD ging seine Kritik oft zu weit. Tucholskys Polemiken brachten ihm – auch nach 1945 – immer wieder den Vorwurf ein, mit seiner Kritik übers Ziel hinausgeschossen zu sein und die Stabilität der Republik untergraben zu haben.
Im Jahr 1923 nahm Tucholsky kurzfristig eine Stelle in einem Bankhaus an. Die Inflation, die damals auf ihrem Höhepunkt angelangt war, war einer der Gründe dafür, ebenso wichtig scheint jedoch, dass Tucholsky persönlich wie beruflich in einer Krise war. Er war depressiv, hatte Selbstmordgedanken und zweifelte zunehmend am Sinn seiner Arbeit. Die politischen Ereignisse interessierten ihn immer weniger, Deutschland ödete ihn an, sein publizistischer Kampf um die Republik schien wirkungslos zu bleiben. Auch seine privaten Verhältnisse waren desolat: Er hatte 1920 die Beziehung zu Mary Gerold, die er 1917 kennengelernt hatte, beendet und überstürzt seine Jugendliebe Else Weil geheiratet; die Ehe hatte jedoch nicht lange gehalten. Er warb nun wieder um Mary Gerold, die er 1924 heiratete, und siedelte mit ihr nach Paris über. Ein Mitarbeitervertrag mit Siegfried Jacobsohn ermöglichte Tucholsky längere Aufenthalte im Ausland, und während der folgenden Jahre war er viel auf Reisen, u.a. schrieb er seine Reisereportage über die Pyrenäen.
Als im Dezember 1926 Siegfried Jacobsohn überraschend starb, übernahm Tucholsky kurzfristig die Leitung der „Weltbühne“. Da er jedoch nicht dauerhaft nach Deutschland zurückkehren wollte, trat bald Carl von Ossietzky an seine Stelle. Tucholsky blieb jedoch Mitherausgeber und prägte die Zeitschrift weiterhin mit seinen Beiträgen. Noch einmal setzte er sich in der Artikelserie Deutsche Richter grundsätzlich mit der Justiz der Weimarer Republik auseinander. Tucholsky schrieb nun häufig für die AIZ (Arbeiter-Illustrierte Zeitung), inspiriert nicht zuletzt durch deren gezielten Einsatz der Fotografie als politische Waffe. Zusammen mit John Heartfield arbeitete er an dem Buch Deutschland, Deutschland über alles (1929): In einer Collage aus früher erschienenen Texten und Fotografien aus der AIZ sollten zehn Jahre Republik noch einmal einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
Anfang 1930 siedelte Tucholsky nach Schweden über, seine Ehe mit Mary Gerold war 1928 zerbrochen und seine Ernüchterung über den Zustand der deutschen Republik und über die Wirkung seiner publizistischen Arbeit mittlerweile so groß geworden, dass er sich mehr und mehr zurückzog. Er schrieb immer weniger und die Arbeiten der letzten Jahre lassen einen resignativen Zug erkennen. Die politische Situation in Deutschland spitzte sich weiter zu. Als Carl von Ossietzky 1931 wegen eines Weltbühne-Artikels zur Aufrüstung der Wehrmacht zu 18 Monaten Haft verurteilt wurde, bezeichnete Tucholsky in der Weltbühne diesen „Hexenprozeß“ als „General-Quittung“. Doch als Ossietzky sich 1932 erneut vor Gericht verantworten musste, diesmal wegen Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder“ (der noch in den 1990er Jahren Gerichte beschäftigt), wagte Tucholsky es nicht mehr, eine Reise nach Deutschland anzutreten. Freunde hatten ihm dringend abgeraten, da er sich unnötig in Gefahr gebracht hätte. Doch bis zu seinem Tod nagte das Gefühl in ihm, falsch gehandelt zu haben.
Die „Reise ins Dritte Reich“, die nicht mehr aufzuhalten war, nahm Tucholsky schon lange wahr, 1932 brachte er dies in einem seiner Schnipsel genannten kurzen Texte zum Ausdruck: „Kerle wie Mussolini oder der Gefreite Hitler leben nicht so sehr von ihrer eignen Stärke wie von der Charakterlosigkeit ihrer Gegner. Um mich herum verspüre ich ein leises Wandern. Sie rüsten zur Reise ins Dritte Reich.“ (Reise ins Dritte Reich, 1932)
Nach Hitlers Machtergreifung wurden Tucholskys Schriften verbrannt, er stand auf der ersten Ausbürgerungsliste der Nationalsozialisten, sein Vermögen wurde beschlagnahmt. Während seiner letzten Jahre äußerte sich Tucholsky nur noch in Briefen an Freunde zur politischen Situation in Deutschland, in Exilzeitschriften zu publizieren, lehnte er ab. Wie er mehrfach schrieb, war er „damit fertig.“ Gesundheitliche Probleme und die finanzielle Abhängigkeit von seiner letzten Gefährtin Hedwig Müller verstärkten seine resignative Stimmung noch. Am 20. Dezember 1935 nahm Tucholsky einen tödlichen Mix aus Schlaftabletten und Alkohol zu sich, ob aus Versehen oder Absicht, bleibt ungeklärt.