Interpretation "Unterm Birnbaum" von Theodor Fontane
Die Kriminalliteratur ist eine verhältnismäßig junge Gattung, die erst im 19. Jahrhundert zu einer ersten Blütephase gelangt. Die wichtigsten Inspirationsquellen sind die zu dieser Zeit sehr beliebten Fallgeschichten: Zwischen 1842 und 1890 gibt der renommierte Schriftsteller und Jurist Willibald Alexis im nicht weniger renommierten Brockhaus-Verlag unter dem Titel Der Neue Pitaval eine sechzig Bände umfassende Sammlung von solchen Fallgeschichten heraus. Der Titel geht auf eine ähnliche Sammlung von Rechtsfällen aus dem 18. Jahrhundert zurück, die 1734 von dem französischen Juristen Fançois Gayot de Pitaval herausgegeben wird. Diese Fallgeschichten, die im Wesentlichen auf Gerichtsakten basieren und den Hergang der Tat aus der Perspektive des bereits abgeschlossenen Strafprozesses schildern, sind für die Entwicklung der Kriminalliteratur im Realismus mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger als die hochliterarischen Vorläufer eines Friedrich Schiller oder E. T. A. Hoffmann.
Zwischen den Pitavalgeschichten und den belletristischen Kriminalgeschichten gibt es einen fließenden Übergang, denn die Pitavalgeschichten sind keineswegs frei von Fiktion, vor allem, wenn es um die psychologischen Motive des Täters geht, und die Kriminalgeschichten basieren häufig auf tatsächlichen Kriminalfällen. Für die literarische Bewegung des Realismus bietet sich die Kriminalgeschichte geradezu an, denn in ihr ist es möglich, eine soziale Realität zu schildern, die Motive der Handelnden psychologisch zu erklären und den moralischen Aspekt der Tat herauszustellen – drei zentrale Anliegen des realistischen Erzählens.
Theodor Fontane hat insgesamt fünf Prosatexte verfasst, die in einem weiteren Sinne zur Kriminalliteratur gerechnet werden können: Die historische Erzählung Grete Minde (1879/80), in der es um eine Brandstiftung geht, der die Stadt Tangermünde im 17. Jahrhundert zum Opfer fällt; Ellernklipp (1881), Unterm Birnbaum (1885) und Quitt (1890), in denen jeweils ein Mord verübt wird, und letztendlich auch Effi Briest (1895), da es hier um Ehebruch geht, der im zeitgenössischen Kontext noch ein strafrechtlich relevantes Delikt ist.
Auffällig und charakteristisch für den Kriminalroman des Realismus ist der schicksalhafte Untergang des Schuldigen, der in keiner der genannten Kriminalerzählungen Fontanes fehlt – wo die Texte ein reales historisches Vorbild haben, werden die Fakten von Fontane gegebenenfalls entsprechend verändert: Grete Minde stirbt bei ihm in den Flammen des selbstgelegten Brandes – das historische Vorbild wird dagegen im Jahre 1619 hingerichtet; Effi Briest wird von einem frühen Tod ereilt – dagegen wird das historische Vorbild 99 Jahre alt.