Interpretation "Soll und Haben" von Gustav Freytag
Das Motto des Romans, das Freytag von dem zeitgenössischen Literaturkritiker Julian Schmidt übernommen hat, ist Programm: "Der Roman soll das deutsche Volk dort suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit."
Gustav Freytags Roman Soll und Haben findet dieses Volk exemplarisch in der Figur des rechtschaffenen Anton Wohlfart; der Name allein spricht für sich. Getreu Freytags nationalliberaler Gesinnung arbeitet sich Wohlfart, Sohn eines kleinen Beamten, in dem schon für diese Zeit etwas anachronistisch anmutenden Kolonialwarenhaus T. O. Schröter die Karriereleiter nach oben, bürgerliches Glück und Ansehen sind dabei die angestrebten Ziele. Er folgt den Grundsätzen, die sein Lehrherr Schröter – und darin sicherlich Freytags Überzeugung folgend – so formuliert: "daß die freie Arbeit allein das Leben der Völker groß und sicher und dauerhaft macht."
Wohin es dagegen führt, wenn diese Grundsätze nicht beachtet werden, zeigt das Schicksal der adeligen Familie von Rothensattel. Dekadenz und überkommener Adelsdünkel ruinieren den einst blühenden Besitz.
Anton Wohlfart wird mit der Liquidation beauftragt und stößt hier auf seinen Gegenspieler, den Juden Veitel Itzig, der ihm von seinem Geburtsort her bekannt ist. Besessen von Habgier und Ehrgeiz, ohne Moral und ohne Ideale, ist er es – im Verein mit dem Makler und Spekulanten Hirsch Ehrenthal –, der nicht unwesentlich zum Ruin der adeligen Güter beigetragen hat.
Damit entwirft der Roman auch ein negatives Bild des Juden. Auch andere Aufsätze Freytags aus dieser Zeit enthalten antisemitisches Gedankengut. Erst später, vor allem in dem gegen Richard Wagner verfassten Artikel Der Streit über das Judentum von 1869, revidiert er seine vormaligen Äußerungen. Freytag setzte sich in der Folge für die Auflösung der noch bestehenden Ghettostrukturen und die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft ein. Er wird Mitglied in dem 1890 gegründeten Verein zur Abwehr des Antisemitismus; seine dritte Frau, Anna Strakosch, ist Jüdin.
Anton Wohlfarts selbstloser Einsatz für die Familie von Rothensattel wird allerdings nicht belohnt. Der Standesdünkel des Freiherrn, obwohl finanziell am Ende, ist nach wie vor ungebrochen. Statt Anton Wohlfart gibt er seine Tochter, die frivole Leonore, dem aus Amerika zurückgekehrten Adeligen von Fink zur Frau. Wohlfart zeigt sich dennoch moralisch untadelig und gewappnet. Er heiratet schließlich die junge Schwester Schröters und wird Anteilseigner am Handelshaus – ein neues Soll-und-Haben-Konto wird eröffnet.
Der Roman, ein Musterbeispiel für den bürgerlich-programmatischen Realismus, folgt formal streng einem dramatischen Aufbau: Einleitung – Verwicklung – Höhepunkt – Umschlag – Auflösung. Die Tendenz ist eindeutig: nur der Fleiß und die Tugend des Bürgertums vermögen Fortschritt, Zivilisation und Kultur zu schaffen, während die Habgier des Judentums sich gegen die Interessen der Gemeinschaft richtet und der im Standesdünkel und selbstvergessenen Vergnügen gefangene Adel zu keiner gesellschaftlich-sozialen Leistung mehr fähig ist.
Dennoch bietet der Roman eine interessante Lektüre und zeichnet in seiner biedermeierlichen Monumentalität ein beeindruckendes Bild von den sozialen Verhältnissen der Zeit, als zeithistorische Quelle und literarische Umsetzung nationalliberaler Weltanschauung hat er bis heute nichts an Wert eingebüßt.