Interpretation "Märchen" von Eduard Mörike

Daneben steht Mörike, der Märchenerzähler und Humorist: sein frühestes Prosamärchen, Der Schatz, von 1835, erinnert noch an die literarischen Kunstmärchen von Hoffmann oder Tieck; der Einbruch des Phantastischen in die bürgerliche Welt erscheint ironisch gebrochen und ist doch auch Ausbruch aus der stickigen Bürgerlichkeit.

Ganz anders Die Hand der Jezerte (1853). Angesiedelt im Orient, in einer archaisierenden, an die Luther-Bibel anklingenden Sprache, erzählt Mörike im Gewand einer Legende von urmenschlichen Regungen: Eifersucht, Trauer und Reue. Obwohl die Figuren in ihrem Charakter nur angedeutet sind, überzeugen sie in ihrem Verhalten. Nähe und Ferne, zeitlose Muster und fremde Szenerie sind in diesem Prosatext von strenger Knappheit vereint, fast entsteht der Eindruck, einen apokryphen Text aus einem Epos des Zweistromlandes zu lesen. Wie in seiner Mozart-Novelle hat Mörike in diesem psychologisch vielschichtigen Märchen das Romantische, das Klassische und das Biedermeierliche mit großer Kohärenz verbunden.

Bäuerlich-derb, scheinbar naiv und doch mit klarem Blick und echtem Mitgefühl für die menschlichen Schwächen erzählt das Märchen Der Bauer und sein Sohn die Geschichte eines Generationskonfliktes und den Weg eines Heranwachsenden in die Unabhängigkeit. Gleichzeitig ist es ein Plädoyer für die Achtung vor aller Kreatur, das die Tierschutz-Problematik unserer Tage auf überraschend aktuelle Weise vorwegnimmt.

Und dann, 1852, Das Stuttgarter Hutzelmännlein, berstend vor dialektgefärbtem Sprachwitz (wobei Mörike in einem ausführlichen Anhang sprachliche und topographische Besonderheiten eingehend erklärt); ein phantasievoll-wildes Glücks- und Abenteuermärchen in urwüchsiger, grotesker und doch auch zarter Prosa. Fabulierfreude ist mit tradierten Märchenstoffen und -motiven wie Tischlein-deck-dich und Undine verbunden zu einer humorvollen "Vermischung des Feenhaften und Purzligen", wie Mörikes Freund Moritz von Schwind es ausdrückt.

Hier, in der Sprache, ist Mörike zuhause, nicht im Reich der sittlichen Welt und weltbeherrschenden Ideen. Mörike hat um die Beschränktheit seiner Möglichkeiten gewusst und sich gleichzeitig um eine eigenständige literarische Position bemüht. In einer Zeit des allgemeinen Umbruchs ist sein Werk nicht Ausdruck von Epigonentum und resignierendem Konformismus, sondern ein Dokument des inneren Ringens eines Menschen, das hohe ästhetische Qualitäten aufweist.