Interpretation "Das Schloß" von Franz Kafka

Kafkas 1922 entstandenes Romanfragment Das Schloß zählt zweifellos zu den rätselhaftesten Werken der Weltliteratur. In vieler Hinsicht verweist er auf das Romanfragment Der Prozeß und ist als ein Pendant zu diesem Werk zu betrachten. War der Name des Helden im Prozeß Josef K., so heißt der Held im Schloß einfach 'K.'. Josef K. wird von einer Behörde verfolgt und versucht, ihr zu entkommen; K. versucht, zu einer Behörde vorzudringen. Die Behörden haben einige Ähnlichkeit miteinander: Sie stehen weit über den Menschen, die ihnen ausgeliefert sind; sie sind mit ungeheurer Machtfülle ausgestattet und entscheiden über existentielle Fragen, doch man kann nicht mit ihnen kommunizieren, denn sie sind hermetisch abgeriegelt gegen die Außenwelt.

Beide Romane sind weder als Kritik an Justiz oder Bürokratie noch als Satire aufzufassen, auch wenn es in beiden Romanen durchaus satirische Züge gibt, die das Behördenwesen ins Visier nehmen. Ebensowenig lassen sich die Werke als Parabeln lesen, etwa über die menschliche Existenz angesichts des schicksalhaften Verhängnisses oder einer launischen, strafenden Gottheit – auch wenn hier Menschen in existentiellen Situationen dargestellt werden, in denen sie mit Fragen von Schuld oder Existenzberechtigung konfrontiert werden, die offenkundig eine metaphysische Tragweite besitzen.

Das Schloss und die Behörden, die in ihm residieren, haben einen sehr eigenartigen Status, der in einer Verbindung aus bürokratischer und feudaler Herrschaft besteht. Das zeigt sich schon am Äußeren des Gebäudes: Es heißt zwar 'Schloss', ist aber nur eine Ansammlung von Häusern mit einem Turm. Die Beamten üben eindeutig bürokratische Tätigkeiten aus, verfügen aber über eine Macht, wie sie nur aus den feudalen und patriarchalischen Gesellschaftssystemen früherer Zeiten bekannt ist. So nehmen sich die Beamten ganz ohne Skrupel das Recht heraus, jede Frau per Befehl zu ihrer Geliebten zu machen; K. erhält gegen Ende des Romans sogar die unmissverständliche Anweisung, sein Verhältnis mit Frieda sofort zu beenden, da der Beamte Klamm dadurch irritiert werden könnte.

Dabei bleiben die Machtmittel, die dem Schloss zur Verfügung stehen, unklar. Die Dorfbewohner leben in einer angstgeladenen, beklemmenden Atmosphäre, sie bringen den Beamten eine scheinbar völlig unangemessene Ehrfurcht entgegen, die K., der die Verhältnisse nicht kennt, unverständlich findet. Da die Geschehnisse, die uns ein personaler Erzähler berichtet, ausschließlich aus der Perspektive K.s geschildert werden, teilen wir als Leser sein Unverständnis gegenüber der Furchtsamkeit der Dorfbevölkerung und den beständig behaupteten Unmöglichkeiten. Warum sollte es unmöglich sein, jemals das Schloss zu betreten oder mit dem Beamten Klamm zu sprechen? Warum sollte das, was die Beamten tun, von derartiger Wichtigkeit sein, dass sie sich unmöglich um die Angelegenheiten K.s kümmern können? Die Regeln, die in dieser Welt gelten, bleiben rätselhaft, und dennoch muss sich K. mit deren Existenz abfinden.

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