Interpretation "Der Dichter und seine Dichtung" von Eduard Mörike

Mörike, der Dichter im Schlafrock

Wie kein zweiter ist Eduard Mörike mit dem Etikett des biedermeierlichen Idylls, der am Ofen sitzenden Selbstgenügsamkeit, der weltabgewandten Indolenz belegt worden, und es gilt immer noch, viele Vorurteile auszuräumen, ohne in die kritiklose Bewunderung vergangener Zeiten zu verfallen. Es geht um einen der bedeutendsten deutschen Lyriker und einen der eigenwilligsten Erzähler des 19. Jahrhunderts.

Gewiss, Mörike ist kein Mann der politischen Tat, denn er ist in seinem Wesen alles andere als praktisch veranlagt. Als "Mensch in Schlafrock und Pantoffeln" ist er bezeichnet worden, der sich als Pfarrer von Cleversulzbach überfordert zeigt, einer Gemeinde von sechshundert Mitgliedern vorzustehen, und wegen andauernder Kränklichkeit zum Frühpensionär wird. Dieser Mann besteigt keine Barrikaden und verfasst keine Revolutionsaufrufe in Reimen (wiewohl er die Revolutionen von 1830 und 1848 aufmerksam mitverfolgt). Kein Wunder, dass sich Heinrich Heine (der Mörike allerdings nicht gelesen hat) 1838 im Schwabenspiegel mokiert: "Ein ganz ausgezeichneter Dichter der schwäbischen Schule, versicherte man mir, ist Herr Mörike – er sei erst kürzlich zu Bewußtsein, aber noch nicht zur Erscheinung gekommen; er habe seine Gedichte nämlich noch nicht drucken lassen. Man sagt mir, er besinge nicht nur Maikäfer, sondern sogar Lerchen und Wachteln, was gewiß sehr löblich ist."

Mörikes indirekte Antwort erfolgt erst sehr viel später, als sich deutsche Dichter wieder bemüßigt fühlen, deutsche Waffenherrlichkeit zu besingen, und zeugt von Skepsis und dem Bewusstsein, der gängigen Phrase, der Platitüde niemals erlegen zu sein. Unter dem Titel In Gedanken an unsere deutschen Krieger schreibt er 1871:

"Bei euren Taten, euren Siegen
Wortlos, beschämt, hat mein Gesang geschwiegen.
Und manche, die mich damals schalten,
Hätten auch besser den Mund gehalten."

Trotzdem: wenn es darum geht, öffentlich Courage zu zeigen, hat Mörike sich nicht hervorgetan. Als sein Bruder Karl 1831 wegen aufrührerischer Plakate und revolutionärer Umtriebe arretiert und schließlich zu einem Jahr Haft auf dem Hohenasperg verurteilt wird, gelten Mörikes vorrangige Sorgen dem Unfrieden, den Karl damit in die Familie bringt, und die möglichen negativen Auswirkungen auf seine, Eduards, eigene "ordentliche Karriere" als Theologe, so dass er sogar in Erwägung zieht, nach Bayern, also ins Ausland zu ziehen.

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