Interpretation "Der Dichter und seine Dichtung" von Eduard Mörike (Seite 3)
Mörikes Dichtung
Wohl ist er sich nicht zu schade, von Maikäfern, Lerchen und Wachteln, ja sogar von Küchenschaben und Stechmücken ("Du zierlich Langgebeinetes, Jungfräuliches!") zu schreiben, wohl trifft er den idyllischen Ton, und nirgends besser als in der Idylle vom Bodensee (1846) oder im Alten Turmhahn (1855) – Stücke, die fortan das Bild Mörikes als Vertreter des Biedermeier bestimmen, ebenso wie die Tatsache, dass sein äußerliches Leben auf einen 'idyllischen' Raum, die schwäbische Gegend bis hin zum Bodensee, beschränkt bleibt.
Doch seine Dichtung greift weit über dies alles hinaus. Zum einen durch die Vielfalt der Themen und den ungeheuren Reichtum der Formen, zum andern durch die Fülle an nuancierter Ausdrucksmöglichkeit, die subtile Differenziertheit der Töne und Tonlagen, der atmosphärischen und seelischen Stimmungen. Vor allem aber überschreiten seine Werke immer wieder die engen Grenzen des Bürgerlich-Biedermeierlichen: sei es, weil in ihnen eine Gegenwelt des Märchenhaften und Wunderbaren ersteht, sei es durch die dunkle Ahnung von Bedrohung und Abgrund, die uns zwischen den Zeilen entgegenweht:
"An eine Äolsharfe
Angelehnt an die Efeuwand
Dieser alten Terrasse,
Du, einer luftgebornen Muse
Geheimnisvolles Saitenspiel,
Fang an,
Fange wieder an
Deine melodische Klage!
Ihr kommet, Winde, fern herüber,
Ach! von des Knaben,
Der mir so lieb war,
Frisch grünendem Hügel.
Und Frühlingsblüten unterwegs streifend,
Übersättigt mit Wohlgerüchen,
Wie süß bedrängt ihr dies Herz!
Und säuselt her in die Saiten,
Angezogen von wohllautender Wehmut,
Wachsend im Zug meiner Sehnsucht,
Und hinsterbend wieder.
Aber auf einmal,
Wie der Wind heftiger herstößt,
Ein holder Schrei der Harfe
Wiederholt, mir zu süßem Erschrecken,
Meiner Seele plötzliche Regung;
Und hier – die volle Rose streut, geschüttelt,
All ihre Blätter vor meine Füße!"