Biographie Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

Ein Jahr darauf verlobt sich Goethe mit Lili Schönemann, der sechzehnjährigen Tochter eines Frankfurter Handelsherrn. Obwohl die Verbindung anscheinend sehr glücklich ist, fürchtet Goethe die Enge eines bürgerlichen Lebens in "häuslicher Glückseligkeit". Nach einer Reise mit den Grafen Stolberg in die Schweiz trennt er sich von seiner Braut, um einer Einladung des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach zu folgen.

Weimar, erste Phase. 1775 – 1786
Am 7. November 1775 trifft Goethe in Weimar ein, wo er – mit nur einer längeren Unterbrechung, seiner Italienischen Reise – bis zum Ende seines langen Lebens bleibt. Herzog Karl August ist gerade achtzehn Jahre alt und hat soeben die Regierung übernommen; seine Residenz Weimar ist ein kleiner Ort mit knapp 6000 Einwohnern. Der junge Herzog ist im Übrigen kein besonders kunstsinniger Monarch; ihm liegen die Jagd und das Militär wesentlich mehr am Herzen als die Literatur. Den heute so berühmten 'Weimarer Musenhof' begründet vielmehr die Herzogin-Mutter Anna Amalia, die, neben anderen Intellektuellen der Zeit, schon Christoph Martin Wieland als Prinzenerzieher an ihren Hof gezogen hat. Trotzdem, oder gerade weil der junge Herzog den Herrschertyp verkörpert, der auch das Idol des Sturm und Drang ist, werden Goethe und Karl August schnell enge Freunde. Eine gewisse Zeit geht es hoch her am am Fürstenhofe – die Stürmer und Dränger Jakob Michael Reinhold Lenz und Friedrich Maximilian Klinger erscheinen; man geht auf die Jagd und verschreckt brave Bauern und Bürger mit allerlei Schabernack.

1776 kommt auch – auf Veranlassung Goethes – sein Straßburger Mentor Johann Gottfried Herder nach Weimar, wo er das Amt des Generalsuperintendenten übernimmt. Im Juni desselben Jahres tritt Goethe dann formell als Geheimer Legationsrat in den Weimarischen Staatsdienst ein, im September 1779 wird er Geheimer Rat (25 Jahre später dann Wirklicher Geheimer Rat, Exzellenz und Staatsminister); er hat von Anfang an die Regierungsgeschäfte deutlich ernster genommen, als man es von einem jungen Dichter erwarten konnte.

Die Begegnung mit Charlotte von Stein ist für die persönliche Entwicklung Goethes das bedeutendste Ereignis dieses Lebensabschnitts. Unter dem Einfluss der sieben Jahre älteren, hochkultivierten Hofdame streift er viel vom Genie-Gehabe seiner Sturm-und-Drang-Phase ab. Dichterisches Ergebnis dieses Wandlungsprozesses ist das Drama Iphigenie auf Tauris, geschrieben im Februar und März 1779 – eigentlich das einzige größere Werk von bleibender Gültigkeit aus der frühen Weimarer Zeit, in der sonst wenig entstanden ist. Daneben bleiben das Drama Die Geschwister und die Hymne Harzreise im Winter bedeutsam; auch so vollendete Gedichte wie An den Mond und Wanderers Nachtlied gehören in diese Zeit. Auch die naturwissenschaftlichen Studien Goethes nehmen nun ernsthafte Formen an; 1784 entdeckt er den menschlichen Zwischenkieferknochen (Über den Zwischenkieferknochen des Menschen und der Thiere. Jena 1784)

Goethe 1775. Bleistiftzeichnung von Georg Friedrich Schmoll
Goethe 1775. Bleistiftzeichnung von Georg Friedrich Schmoll

»Jede Wendung, mit der Goethe seine Stellung in Weimar befestigte, entfernte ihn weiter von dem Schaffens- und Freundeskreis der Straßburger und Wetzlarer Anfänge. [...] In einer Provinzstadt wie Weimar aber konnte [die Sturm-und-Drang-] Bewegung nur flüchtig auftreten [...]. Auch das hat Goethe von vornherein klar erkannt und ist allen Versuchen begegnet, das Straßburger Wesen in Weimar fortzusetzen. [...] Es war politische Vernunft. Aber mehr noch triebhafte Abwehr gegen die schrankenlose Impulsivität und das Pathos, die im Lebensstil seiner Jugend lagen und denen er sich auf Dauer nicht gewachsen fühlte.«

Walter Benjamin: ‘Goethe’, 1929

Ansicht von Weimar. Aquarell von Adolph Friedrich Rudolf Temler
Ansicht von Weimar. Aquarell von Adolph Friedrich Rudolf Temler

»Man blickte nach Persönlichkeiten umher, die im aufstrebenden Deutschland so mannigfaches Gute zu fördern berufen sein könnten, und so zeigte sich durchaus eine frische Aussicht, wie eine kräftige und lebhafte Jugend sie nur wünschen konnte.«

Über die Pläne am Weimarer Hof. ‘Dichtung und Wahrheit’, 4. Teil, 20. Buch

Christoph Martin Wieland. Gemälde von Ferdinand Jagemann
Christoph Martin Wieland. Gemälde von Ferdinand Jagemann, um 1805

»Dienstag, den 7. d. M., morgens um fünf Uhr, ist Goethe in Weimar angelangt. O bester Bruder, was soll ich Dir sagen? Wie ganz der Mensch beim ersten Anblick nach meinem Herzen war! Wie verliebt ich in ihn wurde, da ich am nämlichen Tage an der Seite des herrlichen Jünglings zu Tische saß! [...] Seit dem heutigen Morgen ist meine Seele so voll von Goethe, wie ein Tautropfe von der Morgensonne.«
Brief Wielands an Friedrich Heinrich Jacobi vom 10. November 1779.

Immerhin hatte Goethe den etablierten Schriftstellerkollegen in seiner Farce Götter, Helden und Wieland von 1774 scharf angegriffen. Dieser reagierte jedoch überlegen: Noch im selben Jahr pries er die Satire im Teutschen Merkur als »ein Meisterstück von Persiflage«.

Charlotte von Stein. Stahlstich von G. Wolf nach einem Selbstportrait
Charlotte von Stein. Stahlstich von G. Wolf nach einem Selbstportrait, undatiert

»Kanntest jeden Zug in meinem Wesen, Spähtest wie die reinste Nerve klingt, Konntest mich mit Einem Blicke lesen, Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt; Tropftest Mäßigung dem heißen Blute, Richtetest den wilden irren Lauf, Und in deinen Engelsarmen ruhte Die zerstörte Brust sich wieder auf; Hieltest zauberleicht ihn angebunden Und vergaukeltest ihm manchen Tag. Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden, Da er dankbar dir zu Füßen lag. Fühlt sein Herz an deinem Herzen schwellen, Fühlte sich in deinem Auge gut, Alle seine Sinnen sich erhellen Und beruhigen sein brausend Blut!«

Aus Goethes Gedicht an Charlotte von Stein vom 16. April 1776

Corona Schröter als Iphigenie und Goethe als Orest in der Uraufführung von Iphigenie auf Tauris
Corona Schröter als Iphigenie und Goethe als Orest in der Uraufführung von Iphigenie auf Tauris am 6. April 1779. Stich von Friedrich Wilhelm Facius nach einem Ölgemälde von Georg Melchior Kraus.

»Iph. gespielt. gar gute Würckung besonders auf reine Menschen.«

Tagebucheintrag vom 6. April 1779

Goethe nahm das Stück zur Umarbeitung »in das schöne, warme Land als Begleiterin« mit.

‘Italiänische Reise’, Erster Teil (8. Sept. 1786)

»Ich merke wohl, daß es meiner ‘Iphigenie’ wunderlich gegangen ist, man war die erste Form so gewohnt, man kannte die Ausdrücke, die man sich beim öftern Hören und Lesen zugeeignet hatte; nun klingt das alles anders, und ich sehe wohl, daß im Grunde mir niemand für die unendlichen Bemühungen dankt. So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muß sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das möglichste getan hat.«

‘Italiänische Reise’, Zweiter Teil (16. März 1787)

Tafel zu Goethes Schrift Über den Zwischenkiefer des Menschen und der Thiere
Tafel zu Goethes Schrift Über den Zwischenkiefer des Menschen und der Thiere (1786)

»Nach Anleitung des Evangelii muß ich Dich auf das eiligste mit meinem Glücke bekannt machen, das mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht – das Os intermaxillare am Menschen! Ich verglich mit [Justus Christian] Lodern Menschen- und Tierschädel, kam auf die Spur, und siehe, da ist es. Nur bitt ich Dich, laß Dir nichts merken, es muß geheim gehalten werden.«

Brief an Herder vom 27. März 1784

Der von Goethe 1784 beschriebene Zwischenkieferknochen
Der von Goethe 1784 beschriebene Zwischenkieferknochen mit der nach ihm benannten Zwischenkiefernaht (sutura goethei).Foto: Clarissa Höschel