Interpretation "Maler Nolten" von Eduard Mörike

Mörike – der Traumland- und Mythendichter: er hat Orplid erschaffen, dieses zugleich wirkliche und unwirkliche Reich seiner Einbildungskraft, Paradies, Atlantis und Arkadien in einem. Fantasy des 19. Jahrhunderts? Ja, und zwar auf höchstem Niveau und in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu beispielsweise Richard Wagners ebenso schwüles wie finstres Germanentum stets von einem Hauch mediterraner Klarheit beseelt:

"Du bist Orplid, mein Land!
Das ferne leuchtet;
Vom Meere dampfet dein besonnter Strand
Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet.

Uralte Wasser steigen
Verjüngt um deine Hüften, Kind!
Vor deiner Gottheit beugen
Sich Könige, die deine Wärter sind."

Erfunden, erträumt wird diese Insel Utopia der Seele mit ihrer Schutzgöttin Weyla bereits zu Tübinger Zeiten, 1825, zusammen mit dem Freund Ludwig Bauer. Gemeinsam entwerfen sie Karten der fernen, verlorenen Insel, entwickeln Mythologie und Geschichte bis hin zur Zerstörung und Verödung der Insel durch den Zorn der Götter. Gemeinsam schreiben sie Orplid-Dichtungen, Bauer die Schauspiele Der heimliche Maluff und Orplids letzte Tage, Mörike das Schattenspiel Der letzte König von Orplid, das in Maler Nolten Eingang gefunden hat. Orplid – und hier ist Mörike ganz Romantiker – versinnbildlicht die verlorene Heimstatt des Menschen, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine noch sehr unmittelbare Ahnung von dem hat, was viel später, mit bezeichnender Nüchternheit, die "Dialektik der Aufklärung" genannt wird: der mit schwindelerregender Beschleunigung sich entwickelnde 'Fortschritt' des Rationalen, Mechanischen, Quantitativen, dem Magie, Schönheit und Geborgenheit in der Welt geopfert werden müssen.

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