Interpretation "Schloß Gripsholm" von Kurt Tucholsky

Der eigentlichen Erzählung vorangestellt ist im ersten Kapitel ein fiktiver Briefwechsel des Schriftstellers Kurt Tucholsky mit seinem Verleger Rowohlt, der seinen Autor um eine Liebesgeschichte bittet, sich aber auch mit einer leichten Sommergeschichte zufriedengibt. Da „Kurt Tucholsky“ erst einmal nach Schweden in Urlaub fährt und dort die Sache „bebrüten“ will, bleibt beim Lesen der nun folgenden Geschichte immer die Frage im Hintergrund, was davon Fiktion ist und was auf realer Erfahrung beruht. Tucholsky treibt damit sein Verwirrspiel um Identitäten, das auch in der Geschichte selbst seine Entsprechung findet. Zahlreiche Anspielungen im Text auf Tucholskys Werk verstärken diesen Eindruck noch. Mit der Journalistin Lisa Matthias, dem Vorbild für seine Lottchen-Figur, hatte Tucholsky tatsächlich dort einen Urlaub verbracht, jedoch ist „so ziemlich alles in dieser Geschichte erfunden: vom Briefwechsel mit Rowohlt an bis zur (leider! leider!) Lydia, die es nun aber gar nicht gibt. Ja, es ist sehr schade.“ (Brief an Alfred Stern vom 6. Mai 1931)

Die beiden ineinander verwobenen Geschichten – von den Urlaubstagen in Schweden und vom Kind Ada – erzählt Tucholsky aus unterschiedlichen Perspektiven. Er nimmt sowohl die Haltung eines auktorialen Erzählers an, wechselt dabei wiederum den Blickwinkel, indem er in einzelne Personen (das Kind, Frau Adriani) hineinschlüpft oder aber Umgebung, Handlung und Personen beschreibt. Gleichzeitig immer präsent ist ein Ich-Erzähler, der kommentiert, sich erinnert oder Erlebnisse schildert. Zuweilen wechseln die Perspektiven in rascher Abfolge.

Die Parallelen zu Rheinsberg sind augenfällig und gehen weit über die äußeren Merkmale – Sommer, Schloss, Ferien – hinaus: der leichte Ton, das übermütige Spiel mit Namen und Identitäten, die Sprachspielereien, die Harmonie in den Beziehungen und deren Ausdruck in der Sprache: „Wir waren ein ganzes Stück Zeit miteinander gefahren und sprachen unter uns einen Cable-Code, der vieles abkürzte. Die Prinzessin [Lydia] fand sich überraschend schnell darein — es war ja auch nichts Geheimnisvolles, es war eben nur die Übereinstimmung in den Grundfragen des Daseins.“ (III, 1) Dieses freundschaftliche Einverstandensein, das sich auch auf Erotik gründet, führt schließlich zu einer Menage à trois für eine Nacht, zwischen Lydia, Billie und dem Ich-Erzähler.

Doch anders als in Rheinsberg zeigen sich auch Schatten: Breiten Raum nimmt die Parallelgeschichte um das Kind Ada ein, die sich im dritten Kapitel zuspitzt. „Das Kind“ oder „der Gegenstand“ ist der Machtbesessenheit der Leiterin des Kinderheims hilflos ausgeliefert ist. Tucholsky hat die Figur dieser Leiterin, Frau Adriani, mit Charakterzügen ausgestattet, die er von seiner eigenen Mutter kannte. Ausführlich werden die Triebkräfte für ihr Verhalten dargelegt: „Hier war alles […] gezählt, kontrolliert, aufgeschrieben und beaufsichtigt. Hier gab es nichts, das nicht ihrer Herrschaft unterstand. Sie fühlte: wenn sie den brennenden Herd scharf anblickte — er würde leiser brennen. Hier war ihr Reich. […] Ihre Welt. Sie knetete die Kinder. Sie formte täglich an vierzig Kindern, […] ein schmerzvolles, ein lustvolles Spiel. Und setzte immer die andern matt. Und siegte immer. Das Geheimnis ihres Erfolges war keines: sie glaubte an diesen Sieg, konnte arbeiten wie ein Bauernpferd und sparte ihre Gefühle für sich selbst.

Sie kam sich sehr einmalig vor, die Frau Adriani. Und hatte doch viele Geschwister.“ (III, 2)

Dieses Verhalten ruft Angst und Hass hervor, beim Ich-Erzähler beschwört die Begegnung mit Frau Adriani eine Phantasie über antike Gladiatorenkämpfe herauf – „Was hier vor sich ging, war ein einziger großer schamloser Zeugungsakt der Vernichtung. Es war die Wollust des Negativen […]“ –, die als Zukunftsvision schon auf die entfesselten Triebe verweist, die der Nationalsozialismus sich zunutze machen sollte: „Alles, aber auch alles, was der Tag an Geducktheit, an Unterdrückung, an Wunschträumen und nicht auszuübender Wollust in diese Bürger und Proletarier hineingepreßt hatte: hier konnte es sich austoben. Es war wie Liebeserfüllung, nur noch ungestümer, noch heißer, noch zischender. […] Die Grausamkeit schlug ihre Augen auf — sie hat schon so viele Namen gehabt, in jedem Jahrhundert einen andern.“

Politische Themen werden nur in Andeutungen berührt, durch gemeinsame Erlebnisse (des Ich-Erzählers mit Karlchen) und „die Übereinstimmung in Grundfragen“ legitimiert: Die Politik hat sich sozusagen in die Vergangenheit zurückgezogen. Tucholskys Ernüchterung und die Abkehr von der Politik und von Deutschland zeigt sich hier deutlich, doch ebenso, dass es keinen Urlaub von der Gegenwart gibt: „Es knisterte. »Steck die Zeitungen weg!« sagte ich. »Habt ihr gelesen...?« sagte er. Und da war es. / Da war die Zeit. / Wir hatten geglaubt, der Zeit entrinnen zu können. Man kann das nicht, sie kommt nach.“ Kurt und Lydia spielen auch mit dem Gedanken, für immer in Schweden zu bleiben (was Tucholsky im Jahr 1930 tatsächlich tat), doch sehen sie ein: „Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles — auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muß man teilnehmen.“ So bleibt als verlässlichste Zuflucht das Miteinander: „Freundschaft, das ist wie Heimat.“