Interpretation "Leonce und Lena" von Georg Büchner

Eine Geschichte ohne Moral, allerdings keine amoralische Geschichte, so könnte das Lustspiel Leonce und Lena charakterisiert werden, wenn es denn überhaupt eine Geschichte enthielte. Doch es fällt schwer, das Wenige an Handlung – den Versuch der Titelhelden, vor der festgelegten Hochzeit zu fliehen, und das 'zufällige' Zustandekommen ihrer Verbindung – als bedeutungstragenden Inhalt anzusehen; vielmehr scheint dieser plot eine geradezu notdürftige Konstruktion zu sein, deren tieferer Sinn sich darin erschöpft, das Auftreten der Figuren nach traditionellem Theaterverständnis zu legitimieren.

Auch von einem Agieren auf der Bühne kann kaum die Rede sein, eher von einem Sich-Verhalten, einem eher ziellosen Anwesendsein. Wenn überhaupt etwas getan wird, so ist das – sprechen. Aber selbst die Sprache entbehrt derjenigen Funktion, die im alltäglichen Gebrauch die dominierende ist: die Vergabe von Information.

"PETER. Ja, wenn aber der Prinz nicht kommt und die Prinzessin auch nicht?
PRÄSIDENT. Ja, wenn der Prinz nicht kommt und die Prinzessin auch nicht, – dann – dann
PETER. Dann, dann?
PRÄSIDENT. Dann können sie sich allerdings nicht heirathen.
PETER. Halt, ist der Schluß logisch? Wenn – dann. – Richtig! Aber mein Wort, mein königliches Wort!
PRÄSIDENT. Tröste sich Eure Majestät mit andern Majestäten. Ein königliches Wort ist ein Ding, – ein Ding, – ein Ding, – das nichts ist."

Das "königliche Wort", die Sprache also als eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen, erweist sich als nichts – nicht nur in der Aussage des Präsidenten, sondern in der permanenten Verweigerung von 'Sinn' im Laufe des gesamten Stückes, das wie eine Aneinanderreihung von Nonsens-Dialogen wirkt.

Reine Spielerei? Publikumsveralberung? Keineswegs. Gerade indem der Text sich gängigen Schemata verweigert, enthält er implizit eine wesentlich radikalere Kritik an politischen und ideologischen Verhältnissen, als sie durch eindeutig angelegte Satire erreicht werden könnte. Es ist die Vielschichtigkeit hinter dem scheinbar Belanglosen, die Leonce und Lena zu einem schwer fassbaren und deshalb beunruhigenden Stück macht.

Relativ gut nachvollziehbar ist die gesellschaftskritische Ebene. Das Reich Popo erscheint unverkennbar als Karikatur des damaligen deutschen Kleinstaates – mit einem lächerlich kleinen Territorium ("Ein Hund, der seinen Herrn sucht, ist durch das Reich gelaufen"), einer abstrusen Hofhaltung, unfähigen Staatsbeamten, einem durch Repression und Dummheit gekennzeichneten Polizeiapparat (vgl. die Polizeidiener-Szene in den Verstreuten Bruchstücken), ("Mensch, warum widersprechen Sie mir nicht?") devoten Untertanen und einem völlig realitätsfernen Monarchen ("Ja, das ist’s, das ist’s. – Ich wollte mich an mein Volk erinnern.")

Seiten