Interpretation "Sonette an Orpheus (1923)" von Rainer Maria Rilke

Begriffsbestimmung:

Unter der lyrischen Form des vor 1250 am Hofe Friedrichs II. entstandenen Sonetts versteht man ein vierstrophiges Gedicht, das aus einem Aufgesang in Form von zwei Quartetten (Oktave) und einem Abgesang in Form von zwei Terzetten (Sextett), also aus insgesamt 14 Versen besteht.

Versmaß:

Was das Versmaß betrifft, haben sich im Laufe der Geschichte des Sonetts verschiedene bevorzugte Formen herausgebildet; für den deutschsprachigen Raum war lange Zeit die von A. W. Schlegel entwickelte Idealform des jambischen Pentameters (Fünfheber) maßgebend, das aber lediglich acht der „Sonette an Orpheus“ aufweisen. Weitere acht sind trochäische Pentameter, das Versmaß der übrigen 39 Sonette ist der sonettuntypische Daktylus. Auffallend ist, dass die Verse des zweiten Teils deutlich länger sind als die des ersten: während hier zwei- bis vierhebige Verse vorherrschen, sind es dort zumeist vier- bis sechshebige.

Reimschemata:

Die einzelnen Quartette weisen entweder einen umarmenden Reim (abba) oder einen Kreuzreim (abab) auf, der Paarreim (aabb) kommt dagegen nur ein einziges Mal vor (II 17). Daraus ergibt sich als häufigstes Schema der Oktave der alternierende Reim abab cdcd. Analog dazu überwiegen auch die alternierenden Kadenzen; Ausnahmen bilden hier die ausschließlich weiblich endenden Reime in I 24 und die ausschließlich männlich endenden Reime in I 20 und II 4. Die Terzette sind demgegenüber freier in der Reimgestaltung (z. B. efg gfe, eef ggf, efg efg, efe gfg, eff geg, efe fgg, etc.), ohne deshalb aber die Grundreimordnung, nach der jeder Reim genau zweimal vorkommt und die beiden Terzette (das Sextett) demnach drei Reimpaare enthalten, zu stören. Insgesamt ergeben sich so viele Kombinationsmöglichkeiten, dass immerhin 15 Sonette ein individuelles Reimschema aufweisen. Umgekehrt ist das am häufigsten verwendete Schema abab cdcd efe gfg, dem insgesamt 14 Sonette folgen.

Eine formale Zusammengehörigkeit der insgesamt 55 Sonette, wie sie etwa bei Tenzonen oder Sonettenkränzen charakteristisch ist, liegt nicht vor (wenngleich, wie im Folgenden aufgezeigt wird, zuweilen formale und inhaltliche Ähnlichkeiten benachbarter Sonette zu beobachten sind); die Gesamtheit der Sonette wird durch Titel und Widmung lose zusammengefasst.

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