Interpretation "Irrungen, Wirrungen" von Theodor Fontane

Mit Empörung reagiert ein Teil des Lesepublikums auf das Erscheinen des Romans Irrungen, Wirrungen im Jahre 1887 in der Vossischen Zeitung; dem prüden Bürgertum der Gründerzeit geht die Freizügigkeit der Darstellung außerehelicher Liebesverhältnisse zu weit – "Wird denn die gräßliche Hurengeschichte nicht bald aufhören?" fragt ein Mitinhaber des Blattes den Chefredakteur.

Ein Jahrhundert später fällt es schwer, in diesem Text in puncto Sexualität bzw. Sitten etwas Anstößiges zu entdecken. Wenn der heutige Leser so etwas wie 'Empörung' spürt, dann über die Ergebenheit, mit der die beiden Hauptfiguren auf ihr persönliches Glück verzichten und sich dem Diktat der Gesellschaft und der finanziellen Gegebenheiten beugen. Die offizielle Verbindung einer jungen Frau aus der unteren Gesellschaftsschicht mit einem Adligen gilt als nicht akzeptabel, und Botho und Lene halten durch ihre Trennung und ihre späteren, jeweils standesgemäßen Heiraten diese klare Abgrenzung der Schichten aufrecht. Dabei ist das Thema der klassenübergreifenden Liebe keineswegs neu. Spätestens seit der Aufklärung, besonders aber in der Romantik, wird die freie Wahl des Partners als natürliche Konsequenz der Freiheit des Individuums betrachtet. Das Zusammenprallen von (Liebes-) Ideal und gesellschaftlicher Realität findet deshalb immer wieder Eingang in literarische Werke. Aber während sich etwa in Schillers Kabale und Liebe das Liebespaar mit aller Kraft gegen die feindlich eingestellte Umwelt wehrt, ist in Irrungen, Wirrungen von Widerstand nichts zu bemerken.

Nicht einmal eine gemeinsame Flucht als Alternative zur offenen Konfrontation wird erwogen; Botho und Lene handeln absolut systemkonform, indem sie sich den äußeren Gegebenheiten widerstandslos fügen. Vor allem Lene gibt sich keinerlei Illusionen hin ("Man muß allem ehrlich ins Gesicht sehn und sich nichts weismachen lassen und vor allem sich selber nichts weismachen"), sondern akzeptiert von Beginn an, dass die Verbindung mit Botho nicht von Dauer sein kann. Lene hat die gesellschaftlichen Mechanismen verinnerlicht, und so korrespondiert ihre fatalistische Haltung ("Ich hab’ es so kommen sehen") mit der im Roman festgestellten Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft: "Ja, wer ist dieser Stärkre? Nun, entweder ist’s die Mutter oder das Gerede der Menschen oder die Verhältnisse. Oder vielleicht alles drei."

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