Interpretation "Lyrik" von Kurt Tucholsky

So scharfzüngig und bitterböse Tucholsky sich in seinen politischen Essays und Satiren zeigen konnte, so war er auch der leichtfüßige Chansondichter, der mit seinen anspielungsreichen Liedern und Spottversen der leichten Muse verpflichtet war. Tucholsky hatte großen Respekt vor der Unterhaltungskunst und war seit seiner Jugend Stammgast in den Berliner Varietés und Revuetheatern. Die Auftritte von Otto Reutter, Claire Waldoff oder Gussy Holl unterzog er als Kritiker einer genauen Analyse und entwickelte an ihrer Vortragskunst seine Maßstäbe für eine gelungene Darbietung.

Satirische Zeitgedichte und Spottlieder hatte Tucholsky schon als Mitarbeiter des „Vorwärts“ verfasst, mit Theobald Tigers frechen Chansons eroberte er sich nach dem ersten Weltkrieg ein begeistertes Publikum. Die Kleinkunstbühnen rissen sich um seine Verse, Tucholsky begann nun auch gezielt für Kabarett und Revue zu schreiben, z.B. für „Schall und Rauch“. Darunter waren harmlose, anzüglich-erotische Lieder, die den Publikumsgeschmack bedienten, mit ihrem frechen Ton und treffsicheren Pointen aber das moderne Lebensgefühl ansprachen. Tucholsky bevorzugte die leisen Töne und Anspielungen, schmuggelte unter der Hand Gehaltvolles ein und verpackte zeitkritische Aussagen heiter und spielerisch. So handelt sein Gedicht Ideal und Wirklichkeit (1929) von erotischen Phantasien, endet aber mit den Versen: „Wir dachten unter kaiserlichem Zwange an eine Republik … und nun ists die! Man möchte immer eine große Lange, und dann bekommt man eine kleine Dicke – Ssälawih –!“

Für seine Lieder dienten ihm oft populäre Schlager, Couplets, Volks- und Bänkellieder als Vorlage, die er zeitgemäß umdichtete. Tucholsky schaute dabei dem Volk aufs Maul, bediente sich verschiedener Jargons und machte sich deren grammatikalische oder phonetische Besonderheiten für so manchen verwegenen Reim zunutze: „»Der Stein is Tineff!« haucht sie lind. »Und der – der will mein Schklave sind? «“ (Abschiedsgesang, 1921) Was Tucholskys Verse für Vertonungen und Vortrag so geeignet machte, war vor allem ihre Eingängigkeit. Der „Ohrenmensch“ Tucholsky besaß die nötige Musikalität, um seinen „halb erotischen, halb politischen“ Gesängen einen schwungvollen Rhythmus und einprägsame Refrains zu verleihen.

Explizit politisch ist Tucholsky in seiner Antikriegslyrik und in den Gedichten, mit denen er auf die Tagespolitik Bezug nahm. Gebrauchslyrik sind seine Gedichte in dem Sinn, dass sie oft für den Tag geschrieben waren und aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Missstände aufgriffen. Die gefährdete Republik, Militär, Justiz, Untertanengeist – worüber Tucholsky alias Ignaz Wrobel in seinen politischen Essays giftete , stellte sein Alter Ego Theobald Tiger in satirisch-parodistischen Liedern bloß. Als überzeugter Pazifist, der sich an der Gründung des „Friedensbundes der Kriegsteilnehmer“ beteiligte, schrieb er mit seinen Antikriegsgedichten an gegen die Verherrlichung von Militär und Krieg, darunter Drei Minuten Gehör, das 1922 anlässlich der Antikriegskundgebung entstand, und Rote Melodie, das er 1920 für Rosa Valetti schrieb und Erich Ludendorff widmete.

Mit seinen Bildgedichten, insbesondere für die Arbeiter-Illustrierte Zeitung, beschritt Tucholsky neues Terrain. Die AIZ setzte gezielt die Photographie als propagandistisches Mittel ein, Tucholsky, der die Ausdruckskraft dieses modernen Mediums schätzte, schrieb zu vielen dieser Bilder und Collagen Texte und Gedichte. Eines der bekanntesten Gedichte Tucholskys, Augen in der Großstadt, wurde 1930 als solches Bildgedicht der AIZ veröffentlicht. Im Original zeigte die AIZ eine Collage aus Gesichtern, die so montiert sind, dass die Augen den Leser meist frontal anblicken; links daneben Tucholskys Gedicht, das die Collage ergänzte und kommentierte. Es ist kein politisches Propagandagedicht, sondern fasst die moderne Großstadterfahrung: die flüchtige Wahrnehmung des Einzelnen in der anonymen Masse. Diese tagtäglichen Begegnungen sind Alltagserfahrung und ständige Irritation zugleich, ein Kennenlernen scheint unmöglich, die Vereinzelung des Menschen zementiert zu sein:

„Es kann ein Feind sein,

es kann ein Freund sein,

es kann im Kampfe dein

Genosse sein.

Es sieht hinüber

und zieht vorüber …

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider.

Was war das?

Von der großen Menschheit ein Stück!

Vorbei, verweht, nie wieder.“