Interpretation "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt

Obwohl die Atombombe im Stück im Zusammenhang mit der 'Weltformel' nicht erwähnt wird, erinnert das Verhalten des Physikers Möbius doch stark an den amerikanischen Atomphysiker J. Robert Oppenheimer. Als wissenschaftlicher Leiter an der Entwicklung der Atombombe beteiligt, bekommt Oppenheimer, als er von der verheerenden Wirkung der Explosionen in Hiroshima und Nagasaki erfährt, moralische Bedenken und argumentiert schließlich gegen den Bau der Wasserstoffbombe. Dürrenmatts Physiker ist ein deshalb Theaterstück mit offensichtlichen zeitgeschichtlichen Anspielungen.

Deutlich wird die politische Lesbarkeit des Stückes auch an seinem unterschiedlichen Erfolg in den jeweiligen Ländern. Auf den deutschsprachigen Bühnen ist Die Physiker nach seiner Veröffentlichung 1962 mit knapp 1600 Aufführungen das am meisten inszenierte Stück, und auch in London und Paris wird die Komödie vom Publikum gefeiert. Verhalten sind dagegen die Reaktionen in den USA und der Sowjetunion. Obwohl die Namen der beiden Großmächte in dem Stück an keiner Stelle ausgesprochen werden, ist doch deutlich zu erkennen, dass die beiden Physiker Eisler/Einstein und Kilton/Newton vom amerikanisch-kapitalistischen bzw. russisch-kommunistischen Geheimdienst eingesetzt worden sind. Dass beide Regierungsformen im Stück unterschiedslos als Gefahr für die Menschheit präsentiert werden, stößt weder im einen noch im anderen Land auf große Begeisterung. Wie in allen Werken Dürrenmatts zeigt sich auch in den Physikern die tief pessimistische Weltsicht des Autors. Dabei kann man Dürrenmatt jedoch nicht vorwerfen, dass er sich von einer bestimmten Ideologie habe vereinnahmen lassen; Dürrenmatts Pessimismus geht immer auch mit einer radikalen Ideologiefreiheit einher.

Das Thema der Komödie ist die Verantwortung des Wissenschaftlers für die unvorhersehbaren Folgen seiner Erfindungen. Während des Kalten Krieges stellt sich angesichts des absurden Vernichtungspotentials der gegnerischen Waffenarsenale die Frage, inwiefern die Wissenschaftler mit den zerstörerischen Möglichkeiten ihrer Erfindungen die Welt letztlich auf ihren Untergang zutreiben. Der Physiker Möbius ist sich dieser Tragik bewusst und versucht, sich moralisch korrekt zu verhalten, indem er den Irren spielt und sich mit seiner Weltformel in die Anstalt zurückzieht. Das Irrenhaus steht in der Bildsprache des Stückes als Metapher für die Welt an sich. Die Menschheit ist dem Wahnsinn anheimgefallen. Die aggressive Kriegspolitik der Großmächte und das hochtechnologisierte Wettrüsten gehören für Dürrenmatt gewissermaßen 'in Behandlung'.

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