Über "Das epische Theater" von Bertolt Brecht
Bertolt Brecht gilt als Begründer des Epischen Theaters, zu dem ihm zunächst die marxistischen Gesellschaftstheorie erste Ansätze geliefert hat. Aus diesen Ideen entwickelt sich im Laufe der Zeit das Konzept des analytischen oder dialektischen Theaters, das den Zuschauer zum Reflektieren und Analysieren anregen soll, nicht aber zum Mitfühlen. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickelt Brecht Verfremdungs- und Desillusionsstrategien, um die Illusion des Zuschauers aufzubrechen und das Spiel gerade als ‚Nicht-Realität’ zu kennzeichnen. Entsprechend verlangt Brecht von seinen Schauspielern auch nicht ein Sich-in-die-Rolle-Hineinversetzen, sondern im Gegenteil, eine analytisch-externe Herangehensweise.
Einige von Brecht eingesetzte und weiterentwickelte Verfahren entstammen sogar dem russischen Revolutionstheater, mit dem sich Brecht bereits 1919 beschäftigt hat; dessen Hauptvertreter Meyerhold wird in den 1930er Jahren zunehmend zu Brechts Antagonisten.
Das Epische Theater grenzt sich deutlich vom klassischen Theater ab durch Ausschaltung der traditionellen dramatischen Elemente wie Spannungsbogen, fortlaufende Erzählung, Illusionsbühne, ein eindeutiges Ende oder eindeutige, nach gut und böse unterscheidbare Charaktere. Ein bloße Reihung von Bildern ersetzt eine konsequenter Handlungsentwicklung, Widersprüche sollen den Zuschauer wachhalten, die Schauspieler zerstören die Illusionsbühne, indem sie Anreden an das Publikum machen (Epiloge !) oder das Publikums sogar in die Darstellung einbeziehen, es wird weitgehend auf illusionsfördernde Requisiten verzichtet, sodass die Bühnentechnik sichtbar wird.
Dies alles impliziert auch eine Abgrenzung vom passiven Zuschauer, der nur so lange passiv sein kann, wie konventionelle dramatische Elemente die damit verbundene rezeptive Haltung gestatten. Brecht fordert dagegen ein aktives und engagiertes Mitdenken des Zuschauers über die dargestellten Figuren und Verhältnisse. Der Zuschauer soll sich nicht in der Handlung verlieren, sondern die Darbietung als Problemstellung begreifen, an deren Lösung er selbst mitarbeiten kann und soll.
Im Gegensatz zur klassischen Dramaturgie wird der Zuschauer bei Brecht mit einer veränderlichen Welt konfrontiert, aus der er Konsequenzen für eigene Entscheidungen ziehen soll.
Die Verfremdung der dramatischen Handlung will also verhindern, dass der Zuschauer der Illusionsbühne unterliegt. Gelingt dies, ist dieser Zuschauer auf dem besten Weg zu einem kritischen und aktiv handelnden Zeitgenossen: Der Zuschauer soll durch den Schock des Nicht-Verstehens des scheinbar Selbstverständlichen zum „wirklichen Verstehen“ (auch im Sinne der marxistischen Gesellschaftstheorie) geführt werden.