Interpretation "Lenz" von Georg Büchner

Dass ausgerechnet ein unüberarbeiteter, lückenhafter Text zu den unumstrittenen Meisterwerken deutschsprachiger Prosa gerechnet wird, ist ein bemerkenswertes, wenn auch nicht einzigartiges Phänomen. Mit vagen Formulierungen wie 'poetische Dichte' oder 'menschliche Tragik' ist Büchners Lenz allerdings nicht Genüge getan. Was macht das Besondere dieses Fragments aus?

Schon bei der Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte fällt ein für Büchner charakteristisches Zusammenspiel von objektiver Berichterstattung und subjektivem Beteiligtsein auf. Der Stoff für die Novelle hat zunächst kaum etwas mit Büchners Biographie zu tun. Durch seinen Aufenthalt in Strassburg hat Büchner August Stoeber und dessen Vater Ehrenfried kennengelernt. Dieser hatte eine Biographie des elsässischen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin geschrieben, bei dem der Sturm-und-Drang-Dramatiker Jakob Michael Reinhold Lenz einige Wochen verbracht hatte. August Stoeber verfasst über diesen unglücklichen Literaten einen biographischen Artikel, in dem er das bis dahin von Goethe geprägte einseitige Bild dieses Autors zurechtrückt. Goethe, der in seiner Strassburger Zeit mit Lenz sehr eng verbunden ist, distanziert sich später von seinem Weggefährten, der zunehmend durch psychische Schwierigkeiten belastet wird. Stoeber unternimmt nicht nur den Versuch einer Rehabilitierung, sondern berichtet auch zum ersten Mal über Lenz’ Verhältnis zu Friederike Brion, der Tochter des Sesenheimer Pfarrers, mit der Goethe zuvor liiert ist.

Mag Büchner die Darstellung dieser pikanten Dreiecksgeschichte gereizt haben, mag ihn die Persönlichkeit Lenz’ – dessen Dramen Der Hofmeister und Die Soldaten in ihrer Betonung der sozialen Problematik durchaus gewisse Affinität zu Büchners Werk aufweisen – besonders angezogen haben: Die Handlung seines Fragments hat er streng auf den Aufenthalt des Dichters bei Oberlin beschränkt. Die darin enthaltenen Hinweise auf Lenz’ literarische Tätigkeit und auf Friederike Brion haben keine historische Verweisfunktion, sondern stellen autonome, nur der Erzähllogik unterworfene Elemente dar. Friederikes Vorname wird zwar genannt, doch fehlt ansonsten jegliche nähere Angabe; wir erfahren lediglich, dass sie "noch einen andern" liebte – dass dieser andere wohl Johann Wolfgang Goethe ist, hat keine textinterne Relevanz.

Aber nicht nur der historische Bezug der Figuren bleibt ohne Bedeutung (sie könnten genauso gut fiktiv sein), auch innerhalb des Textes stehen sie völlig im Hintergrund, nur Oberlin bildet scheinbar eine Ausnahme. Doch im Grunde wird auch er kaum charakterisiert, sondern erfüllt in erster Linie nur eine Funktion als Gesprächs-Gegenüber des Titelhelden, als Träger der 'äußeren Handlung'. Der eigentliche Gegenstand der Handlung ist aber nicht das Geschehen um Lenz, nicht wie oft er nächtlich im Brunnen planscht oder versucht, sich zu entleiben.

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