Interpretation "Lenz" von Georg Büchner (Seite 2)

Was macht Lenz’ Zustand aus? Schon die Eingangsszene enthält den berühmten Hinweis "nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte." Das ist kein beliebiges Bild, um anzuzeigen, dass Lenz 'verrückt' sei; der Text liefert hier ein wesentliches Charakteristikum von Lenz’ Zustand. Ihm ist eine physikalische Tatsache unangenehm, das heißt, es fällt ihm offenbar schwer, die Gültigkeit von Naturgesetzen – und damit eine Realität außerhalb seiner selbst – zu akzeptieren. Der zweite entscheidende Aspekt seiner seelischen Verfassung wird ebenfalls noch vor seiner Ankunft bei Oberlin benannt: "Es wurde ihm entsetzlich einsam; er war allein, ganz allein. [...] Es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts: er war im Leeren!" Beide Züge, die im Verlauf der Novelle immer wieder auftauchen, sei es in seinem Versuch, ein totes Kind wieder zum Leben zu erwecken, oder in der Vorstellung, es "bestünde die Welt nur in seiner Einbildung«, hängen miteinander zusammen. Es handelt sich nicht um die Einsamkeit des Verlassenseins (und insofern spielt die gescheiterte Beziehung zu Friederike nur eine Nebenrolle), sondern um eine existentielle Erfahrung, die allerdings keineswegs als ausschließlich pathologisch betrachtet werden kann.

In diesem Zusammenhang gewinnt das scheinbar überdimensionierte und den Fluss der Erzählung unterbrechende poetologische Gespräch mit Kaufmann Bedeutung. Lenz vertritt darin eine Position, die sich gegen die idealistische seines Gegenübers wendet: "Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur." Das ist mehr als die fiktive Wiedergabe einer typischen Diskussion aus der Sturm-und-Drang-Zeit. Damals beginnt die von Kant, Schelling, Fichte und Hegel geprägte Phase des deutschen Idealismus in der Philosophie – wenn man sich vor allem Fichtes Position vergegenwärtigt, die alles Sein aus dem Subjekt, also dem Ich definiert, so erscheint Lenz’ Gefühl, "als sei nichts als er" als beängstigendes Zerrbild dieses erkenntnistheoretischen Ansatzes.

Ausgerechnet er, dem "Der Dichter und Bildende" am liebsten ist, "der mir die Natur am wirklichsten gibt", der also eine entschieden realistische Haltung in Kunstsachen annimmt, ist im Leben nicht fähig, der Realität zu begegnen. Allerdings handelt es sich nicht um einen Fall von romantischer Weltflucht. Ganz im Gegenteil: Lenz bemüht sich unablässig, mit der sozialen und physischen Welt in Kontakt zu treten; das scheint ihm ansatzweise bei seiner Ankunft im Pfarrhaus (allerdings bleibt er im Inneren "weg, weit weg"), in den ersten Gesprächen mit Oberlin und während seiner Predigt zu gelingen, und letztlich sind seine nächtlichen Bäder im eiskalten Wasser oder seine späteren Selbstverletzungen ("Oft schlug er sich den Kopf an die Wand, oder versetzte sich sonst einen heftigen physischen Schmerz") nichts anderes als vergebliche  Versuche, sich der Existenz einer objektiven Wirklichkeit zu vergewissern.

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