Interpretation "Also sprach Zarathustra" von Friedrich Nietzsche

"Für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche Sprachgenie." Dies schreibt Gottfried Benn zu Friedrich Nietzsche und kennzeichnet damit die eruptive Gewalt, die seinen Werken innewohnt – Nietzsche ist der Philosoph, der mit ausdrucksvoller Geste und lyrischem Empfinden Dichtung schreibt; Nietzsche ist der Dichter, der in seinen Gleichnissen, Träumen, Gesängen und Gedichten philosophiert und theologisiert. Das Wort vom Gesamtkunstwerk muss hier erwähnt werden, denn so will Nietzsche den Zarathustra verstanden wissen. In Ecce Homo schreibt er: "Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen." Und an anderer Stelle bezeichnet er das Werk als "fünftes Evangelium."

Die Grenzen zwischen Dichtung, Musik, Philosophie und Theologie sind unscharf geworden, und Nietzsche geht mit allem, was ihm zur Verfügung steht – Geist, Seele und letztlich auch Körper –, daran, diese unscharfen Grenzen zu überprüfen, ihre Durchlässigkeit zu zeigen und sie zu überschreiten. Möglich geworden ist dies, weil der Urgrund jener Grenzen hinfällig geworden ist: "Gott ist tot", verkündet Nietzsche – und es sei betont, dass er es verkündet, keineswegs behauptet. Gott ist tot: die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage wird solange missverstanden, solange sie unter dem Vorwand der Blasphemie bekämpft wird – Scheingefechte auf einem Terrain, das längst verloren ist. Die Folgen dessen, was Nietzsche konstatieren muss, treten erst im Laufe des 20. Jahrhunderts immer deutlicher zutage und sind mit Namen wie Auschwitz, Hiroshima oder Vucovar auf schreckliche Weise verbunden.

Umwertung aller Werte, Wille zur Macht, Lehre vom Übermenschen und ewige Wiederkehr des Gleichen sind Schlagworte, die vor allem eines bezeichnen: die grausame, aber auch zukunftsweisende, vielleicht sogar ermutigende Aktualität Nietzsches. Zukunftsweisend erscheint sie, da sich Nietzsche wie kaum ein anderer den Widersprüchen und Unsicherheiten ausliefert, die aus den philosophischen Bemühungen um Sinngebung resultieren. Grausam wird seine Aktualität, da es gerade diese Widersprüche und Unsicherheiten sind, derer sich die blonden Bestien, die Schergen der Macht und des reduzierenden, reduzierten Denkens bedienen, um damit ihre Tötungsmaschinerie zu rechtfertigen. Nietzsche sieht dies voraus; er will – ganz entgegen seinem sonst so ausschweifenden und unbezähmbaren Denken – Zäune um seine Gedanken haben, damit sich nicht andere unberechtigt auf ihn berufen können: ein verzweifelter Versuch, rückgängig zu machen, was nicht mehr rückgängig zu machen ist – wie der 'Tod Gottes', wie das Wissen um die Atombombe, wie das Wissen um Genmanipulationen.

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