Interpretation "Das dreißigste Jahr" von Ingeborg Bachmann

1961 erscheint im Piper Verlag ein Erzählband der bisher als Lyrikerin hervorgetretenen und damit äußerst erfolgreichen Autorin Ingeborg Bachmann. Entsprechend nimmt die Kritik die sieben Erzählungen eher verhalten auf. Die darin enthaltenen Themen sind bekannt: Identität und Erinnerung, das Verhältnis zwischen ‚neuer Sprache’ als utopischem Ort und der Alltagssprache, Liebe und Grenzüberschreitung, Bachmanns intensive Auseinandersetzung mit dem Faschismus und dessen Nachwirken in der Nachkriegszeit.

Die titelgebende Erzählung Das dreißigste Jahr handelt von einem männlichen Ich-Erzähler, der mit 30 Jahren eine Lebenskrise entwickelt, weil er zum ersten Mal das Gefühl hat, dass sein Leben endlich ist. Seine Lebenskrise ist zugleich eine Krise der labilen Identität. Er beschließt, für ein Jahr aus seinem gewohnten Leben herauszutreten und auf Reisen zu gehen, um seine Vergangenheit zu erkunden und auf diese Weise festzustellen, wer er eigentlich ist. Die Reise, zugleich eine Reise ins Innere – die Motive überschneiden sich –, führt ihn nach Wien und nach Rom. Seine Erinnerungen stimmen nicht überein mit dem, was ihm andere Personen erzählen. Erst ein Verkehrsunfall, bei dem das alter ego der Figur stirbt, versetzt ihn in die Lage, seine Krise zu bewältigen, aus der Bilanz etwas Positives zu entwickeln und sich wieder der Zukunft zuzuwenden. Das Stilmittel des inneren Monologs dient hier als Mittel zur Selbstverständigung, zur Selbstvergewisserung und führt gleichzeitig dazu, dass das Erzählen am Subjekt orientiert ist. Gleichzeitig spielt die Autorin mit Versatzstücken der Alltagssprache, greift Redensarten auf, verweist auf Mythen und Märchen. So ergibt sich ein vielfältiges Sprachbild, aus dem Momente der lyrischen Sprache auftauchen. Trotzdem bleibt das Erzähl-Ich bruchstückhaft, die ‚neue’ Identität ist keine feste, sondern nur als Konstrukt erkennbar. In großen Teilen weist die Erzählung nicht über sich hinaus, der Referenzbezug bleibt auf die Geschichte bezogen, auf die Identität eines Ich in Nachkriegszeiten, das Gewalterfahrungen und Traumata ausgeliefert ist, dem es aber gelingt, diesen Traumata zu begegnen durch eine Reise ins eigene Ich.

Auch in dieser Erzählung greift die Autorin das Machtverhältnis in heterosexuellen Liebesbeziehungen auf und thematisiert die Missverständnisse und Herrschaftsverhältnisse, die damit verbunden sind.