Interpretation: "Der Stechlin" von Theodor Fontane

"Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts." So schrieb Theodor Fontane 1897 in einem Brief über den Stechlin. Tatsächlich ist die Handlung des großen Altersromans Fontanes nicht mehr als ein Gerüst, um das sich der eigentliche 'Stoff' des Romans rankt: die Konversation. Jede Bewegung der Figuren im Raum, die Besuche, Ausflüge und Reisen, dienen nur dazu, Gespräche zu ermöglichen, oder, im Fall der Trennung, neuen Gesprächsstoff zu bieten.

Fontane, der Meister der 'Herzenskonflikte', der so oft alle Tiefen von Glück und Verzweiflung in der Liebe zwischen Mann und Frau ausgelotet hat, hat in diesem Roman bewusst auf jegliche Dramatik verzichtet. Die Liebesgeschichte, die der Text zu bieten hat, ist kaum als solche zu bezeichnen: Wir erfahren zwar, dass Woldemar sich für eine der Barby-Töchter interessiert, doch die Entscheidung zur Ehe mit Armgard wird uns so lakonisch und beiläufig wie möglich mitgeteilt, von etwaigen Gefühlen erfahren wir nichts.

Beide, Armgard wie Woldemar, bleiben durchaus blasse Figuren; von Armgard wird sogar die Blässe (des Gesichts) explizit als eines der wenigen ihrer Merkmale hervorgehoben. Armgard steht ganz im Schatten ihrer lebenslustigen und redefreudigen Schwester Melusine. Armgard hat nur wenig Anteil an der Konversation, und es bleibt rätselhaft, warum Woldemar gerade sie, und nicht die Schwester wählt. Der Grund kann nur in Woldemars Charaktereigenschaften liegen, die mehr zu Armgard zu passen scheinen als zu der extrovertierten Melusine. Woldemar wirkt im Vergleich zu seinen Kameraden Rex und Czako sehr zurückhaltend und fast farblos; wir erfahren in seinem Fall ebensowenig von bestimmten Neigungen oder Persönlichkeitsmerkmalen wie im Falle Armgards. Es geht also ersichtlich um eine Eheschließung zwischen zwei Durchschnittsmenschen, unter bewusstem Verzicht auf das Aufeinanderprallen ausgeprägter, auf ihre individuellen Eigenarten fixierte Charaktere, das sonst oft den Stoff für einen meist tödlich endenden Konflikt liefert.

Von der Persönlichkeit des alten Stechlin erfahren wir erheblich mehr als von der des jungen. Sein Generalthema entspinnt sich zwischen den Polen des Alten und des Neuen in Bezug auf die Gesellschaftsordnung. Der alte Stechlin ist ein Vertreter des märkischen Junkertums, und daher ist er konservativ und tritt für die Beibehaltung der alten feudalen Ordnung ein. Doch als er die Wahl zum Reichstagsabgeordneten verliert, fühlt er sich keineswegs gedemütigt. Er nimmt das Neue, d. h., den politischen Wandel, der sich mit dem Aufstieg der Sozialdemokratie abzuzeichnen beginnt, gelassen hin. Denn bei allem politischen Konservatismus zeichnet er sich charakterlich durch Liberalität aus; Standesdünkel sind ihm zuwider.

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