Interpretation: "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 2)

Zwei große Themen durchziehen den Roman: der soziale Wandel und die Verbindung eines kleinen, abgelegenen Fleckchens Erde mit der großen, weiten Welt. Den Textbeginn bildet nicht, wie sonst bei Fontane üblich, die Beschreibung eines Hauses oder die Angabe einer Adresse, sondern die Beschreibung eines Sees und der Sagen, die sich um dessen Existenz ranken. Der Stechlin-See wird zum Symbol der Verbindung des Kleinen mit dem Großen: Immer, wenn es in einem anderen Teil der Welt zu Erdbeben oder Vulkanausbrüchen kommt, so steigt der Sage nach im Stechlin-See ein Wasserstrahl auf. Bei schweren Erdbeben soll es sogar ein roter Hahn sein, der aus dem See aufsteigt und in die Lande hineinkräht – damit ist das Phänomen also eindeutig im Bereich der Mythologie anzusiedeln.

Die Erschütterung der Erde ist zugleich ein Symbol für den Wandel der Gesellschaft: "Das Eis macht still und duckt das Revolutionäre", sagt der alte Stechlin, als er seinen Besuchern den zugefrorenen See zeigt. Der Stechlin-See scheint also auf Seiten der Revolutionäre zu sein, zumal die Farbe des roten Hahns schließlich auch die Farbe der Sozialdemokratie ist. Der alte Stechlin teilt dagegen die Vorliebe für diese Farbe nicht: Auf seinem Schloss weht noch die alte preußische schwarz-weiße Fahne. Sein Diener Engelke will einmal einen roten Streifen annähen (und damit die preußische Fahne in eine Fahne des Deutschen Kaiserreichs verwandeln), doch Dubslav von Stechlin ist dagegen, weil er meint, die alte Fahne würde den roten Streifen kaum aushalten.

Dennoch pflegt der Stechlin seine Freundschaft zu dem demokratisch gesinnten Pastor Lorenzen, dem er sogar die Erziehung seines Sohnes übertragen hat. Das Ergebnis ist allerdings, dass Woldemar, wie sein Kamerad Czako sagt, "so ’nen Schimmer von Sozialdemokratie" hat. Der alte Stechlin kennt die Ansichten des Pastors, doch seine Haltung ist eher ambivalent als ablehnend: "Und ich muß bekennen, es hat manches für sich, trotzdem es mir nicht recht paßt." Sein Widerstand gegen alles Demokratische und vor allem Sozialdemokratische ist also weniger in der Sache begründet als vielmehr in Stechlins persönlicher Stellung als Adliger. Demgegenüber lässt die Wendung "es hat manches für sich" erkennen, dass der Stechlin durchaus in der Lage ist, seine persönliche Voreingenommenheit zu überwinden und einen sachlichen Standpunkt einzunehmen. Damit sind zwei wesentliche Persönlichkeitsmerkmale Dubslav von Stechlins benannt: die Fähigkeit zur Reflexion und zur Überwindung des eigenen interessegebundenen Standpunkts und der daraus resultierenden Ambivalenzen.

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