Biographie Franz Kafka (Seite 3)
Franz Kafka schreibt in späteren Jahren einen rund hundertseitigen Brief an den Vater (1919), den er allerdings niemals abgeschickt hat. Darin schildert er aus der – scheinbaren – Distanz von dreißig Jahren sein Kindheits-Trauma: den übermächtigen Vater, der alles kategorisch bestimmt und in jeder Frage von vornherein Recht hat und den er deshalb grenzenlos bewundert – der jedoch seine Kinder nur mit abschätziger Ironie behandelt und verächtlich alles abtut, wofür sich Franz begeistert. Das Resultat dieses ungleichen Kampfes ist, dass der ohnehin schüchterne Junge noch weniger aus sich herausgeht, dass er verstockt wird und kaum mehr etwas redet. Auch in seiner persönlichen Entwicklung bleibt Kafka entscheidend zurück; der junge Kafka lebt in dem ständigen Bewusstsein, dass seine Gefühle für andere Menschen, sein Interesse für Literatur, seine Träume vom Leben und überhaupt alle eigenen Ansichten, nicht nur falsch und deplaziert sind, sondern dass er sich mit ihnen geradezu schuldig macht, dass er sich gegen den Vater und dessen intakte Welt versündigt. Durch sein gesamtes dichterisches Werk zieht sich das Motiv des allmächtigen, gottgleichen Vaters bzw. des vatergleichen Potentaten, eine düstere Gestalt, der er nur mit einem latenten Schuldbewusstsein begegnen kann. Aus dieser psychischen Last resultiert zu einem wesentlichen Teil auch sein schwieriges Verhältnis zu Frauen.
Seine intellektuellen Fähigkeiten, sein Interesse für Bücher, sein Urteilsvermögen und seine geistige Unabhängigkeit entwickeln sich dagegen auf außerordentliche Weise. Kafka durchläuft ohne Probleme die fünf Klassen des gefürchteten Altstädter Gymnasiums – nach Aussagen vieler Zeitgenossen eine ledern konservative Bildungsanstalt mit strengem Reglement und starrem Lehrplan: Die Schüler sind in der Hauptsache damit beschäftigt, Vokabeln (Latein- und Griechisch) zu pauken, Verben zu konjugieren, historische Daten (besonders von großen Schlachten) auswendig zu lernen, und sich eine Menge überflüssiges Wissen anzueignen. Unter seinen Mitschülern gilt der literarisch ausgerichtete und einzelgängerische Atheist als souverän und distanziert. Seine Urteile, z. B. über den Prager Schriftsteller Gustav Meyrink, sind hart und illusionslos, und Kafka wird sogar als Spötter in religiösen Belangen gefürchtet. Eine rege Freundschaft verbindet ihn über Jahre mit dem Zionisten Hugo Bergmann, dem späteren Rektor der Hebrew Universitiy von Jerusalem, sowie mit dem vielseitig interessierten Oskar Pollak, der später Kunstgeschichte studiert und schon während seines Studiums als Koryphäe in seinem Fach gilt – im Ersten Weltkrieg findet dieser vielversprechende Gelehrte dann allerdings den Tod.
»Nirgends nun stehe ich hinter einem mir fremden Element so fest wie hinter meiner Schwester. Hier kann ich mich fügen.«
An Max Brod, November 1917
»Im übrigen ist meine jüngste Schwester [...] meine beste Prager Freundin und auch die zwei andern sind teilnehmend und gut. Nur der Vater und ich hassen einander tapfer.«
An Felice, 11. November 1912
»Ottla erscheint mir zuzeiten so, wie ich eine Mutter von der Ferne wollte: rein, wahrhaftig, ehrlich, folge-richtig. Demütigkeit und Stolz, Empfänglichkeit und Abgrenzung, Hingabe und Selbständigkeit, Scheu und Mut in untrüglichem Gleichgewicht.«
Tagebucheintrag vom 18. Oktober 1916
»Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung, heb ihn bitte gut auf, ich könnte ihn vielleicht doch einmal dem Vater geben wollen. Laß ihn womöglich niemanden lesen. Und ver-stehe beim Lesen alle advokatorischen Kniffe […]«
An Milena, 4. Juli 1920
Kafka war in den ersten Jahren ein vorzüglicher Schüler, später durchschnittlich, wenn er auch ständig fürchtete: »[…] daß ich die Endprüfungen des Jahres nicht bestehen werde und, wenn das gelingen sollte, daß ich in der nächsten Klasse nicht fortkommen werde und, wenn auch das noch durch Schwindel vermieden würde, daß ich bei der Matura endgültig fallen müßte, und daß ich übrigens ganz bestimmt, gleichgültig in welchem Augenblick, die durch mein äußerlich regelmäßiges Aufsteigen eingeschläferten Eltern sowie die übrige Welt durch die Offenbarung einer unerhörten Unfähigkeit mit einem Male überraschen werde.«
Tagebuch, 2. Januar 1912