Ungekürztes Werk "Das Wirtshaus im Spessart" von Wilhelm Hauff

Wilhelm Hauff

Das Wirtshaus im Spessart

Die Sage vom Hirschgulden

Das kalte Herz – erste Abteilung

Saids Schicksale

Die Höhle von Steenfoll

Das kalte Herz – zweite Abteilung


Das Wirtshaus im Spessart

Vor vielen Jahren, als im Spessart die Wege noch schlecht und nicht so häufig als jetzt befahren waren, zogen zwei junge Burschen durch diesen Wald. Der eine mochte achtzehn Jahre alt sein und war ein Zirkelschmied; der andere, ein Goldarbeiter, konnte nach seinem Aussehen kaum sechzehn Jahre haben und machte wohl jetzt eben seine erste Reise in die Welt.

Der Abend war schon heraufgekommen, und die Schatten der riesengroßen Fichten und Buchen verfinsterten den schmalen Weg, auf dem die beiden wanderten. Der Zirkelschmied schritt wacker vorwärts und pfiff ein Lied, schwatzte auch zuweilen mit Munter, seinem Hund, und schien sich nicht viel darum zu kümmern, daß die Nacht nicht mehr fern, desto ferner aber die nächste Herberge sei. Aber Felix, der Goldarbeiter, sah sich oft ängstlich um. Wenn der Wind durch die Bäume rauschte, so war es ihm, als höre er Tritte hinter sich; wenn das Gesträuch am Wege hin und her wankte und sich teilte, glaubte er Gesichter hinter den Büschen lauern zu sehen.

Der junge Goldschmied war sonst nicht abergläubisch oder mutlos. In Würzburg, wo er gelernt hatte, galt er unter seinen Kameraden für einen unerschrockenen Burschen, dem das Herz am rechten Fleck sitze; aber heute war ihm doch sonderbar zumute – man hatte ihm vom Spessart so mancherlei erzählt. Eine große Räuberbande sollte dort ihr Wesen treiben; viele Reisende waren in den letzten Wochen geplündert worden, ja man sprach sogar von einigen greulichen Mordgeschichten, die vor nicht langer Zeit dort vorgefallen seien. Da war ihm nun doch etwas bange für sein Leben, denn sie waren ja nur zwei und konnten gegen bewaffnete Räuber gar wenig ausrichten. Oft gereute es ihn, daß er dem Zirkelschmied gefolgt war, noch eine Station zu gehen, statt am Eingang des Waldes über Nacht zu bleiben.

»Und wenn ich heute nacht totgeschlagen werde und um Leben und alles komme, was ich bei mir habe, so ist's nur deine Schuld, Zirkelschmied, denn du hast mich in den schrecklichen Wald herein­geschwatzt.«

»Sei kein Hasenfuß«, erwiderte der andere; »ein rechter Handwerksbursche soll sich eigentlich gar nicht fürchten. Und was meinst du denn? Meinst du, die Herren Räuber im Spessart werden uns die Ehre antun, uns zu überfallen und totzuschlagen? Warum sollten sie sich diese Mühe geben? Etwa wegen meines Sonntags­rocks, den ich im Ranzen habe, oder wegen des Zehrpfennigs von einem Taler? Da muß man schon mit vieren fahren, in Gold und Seide gekleidet sein, wenn sie es der Mühe wert finden, einen totzuschlagen.«

»Halt! Hörst du nicht etwas pfeifen im Wald?« rief Felix ängstlich.

»Das war der Wind, der um die Bäume pfeift. Geh nur rasch vorwärts; lange kann es nicht mehr dauern.«

»Ja, du hast gut reden wegen des Totschlagens«, fuhr der Goldarbeiter fort. »Dich fragen sie, was du hast, durchsuchen dich und nehmen dir allenfalls den Sonntagsrock und den Gulden und dreißig Kreuzer. Aber mich, mich schlagen sie gleich tot; nur weil ich

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