Interpretation "Amerika" von Franz Kafka

Der unvollendete Roman Amerika, der aus der 1913 separat veröffentlichten Erzählung Der Heizer entstand, ist in mancher Hinsicht ein Ausnahmefall im Werk Franz Kafkas. Der Autor selbst war, wie Max Brod berichtet hat, überzeugt, "dass dieser Roman hoffnungsfreudiger und 'lichter' sei als alles, was er sonst geschrieben hat." Kafkas Erzählstil nähert sich in diesem Roman außerdem viel stärker dem konventionellen Erzählen an als in seinen übrigen Werken: In Amerika gibt es eine Handlung im Sinne einer fortlaufenden Kette von Ereignissen; es fehlt das quälend Statische, die Lähmung der Helden, die in einer bedrohlichen und ungewissen Situation fixiert sind.

Doch trotz der erzählerischen Dynamik weist das Schicksal des Helden von Amerika sehr ähnliche Züge auf wie das der anderen kafkaschen Helden: Karl Roßmann ist von vornherein das Opfer der Situation; bereits im ersten Satz wird uns mitgeteilt, dass Karl Roßmann von den Eltern nach Amerika geschickt worden ist, weil ein Dienstmädchen ihn verführt und ein Kind von ihm bekommen hat. Wenig später erfahren wir allerdings, dass es schon eher eine Vergewaltigung war, die bei dem halbwüchsigen Karl Roßmann nichts als Ekel und Abscheu erregt hat. Dass ihn die Eltern deshalb nach Amerika geschickt haben, ist offensichtlich eine grobe Ungerechtigkeit, die Karl jedoch gar nicht als solche wahrzunehmen scheint. Gerade in seiner Eigenart, sein Schicksal geduldig auf sich zu nehmen, erweist sich Karl Roßmann als typische Kafka-Figur.

Dabei hat Karl ein ausgeprägtes und leicht zu mobilisierendes Gerechtigkeitsempfinden, wie an seiner Parteinahme für den Heizer erkennbar wird. Doch bleibt dieses Gerechtigkeitsempfinden naiv. Er zeigt kein Verständnis für die sozialen Rahmenbedingungen der Situation. Wie kindlich Karl in seiner selbstgewählten Anwaltsrolle agiert, belegt seine emotionale Reaktion über die seiner Meinung nach gelungenen Ausführungen des Heizers: Er drückt seine Freude aus, indem er am Schreibtisch des Oberkassierers "eine Briefwaage immer wieder niederdrückte vor lauter Vergnügen."

Mit dem Motiv der ungerechten Behandlung und dem verzweifelten Versuch, Recht zu bekommen, exemplifiziert die Heizer-Episode das Thema, das den gesamten Roman durchzieht. Im folgenden ist es Karl, der auf haarsträubende Weise ungerecht behandelt wird, ohne dass es ihm möglich wäre, sich Gerechtigkeit zu verschaffen. Zunächst hat er unverdientes Glück, als ihn sein hochgestellter Onkel bei sich aufnimmt. Bald jedoch verstößt in der Onkel wieder, ohne dass der Grund auch nur im mindesten nachvollziehbar wäre. Zunächst gibt der Onkel Karl "scheinbar freudig" die Erlaubnis, die Einladung des Herrn Pollunder anzunehmen. Als die Einladung dann konkret wird, findet der Onkel beständig Einwände dagegen und schreibt zuletzt in dem Brief, mit dem er Karl wegschickt, von einem "allgemeinen Angriff" gegen ihn, den hinzunehmen gegen seine Prinzipien verstoßen würde.

Seiten