Interpretation "Amerika" von Franz Kafka (Seite 3)

Nicht nur die Vorgesetzten im Hotel, auch die gleichgestellten Vagabunden werden von Herrschsucht und Bosheit getrieben. Wirkliche Freundschaft scheint es in dieser Welt nicht zu geben. Niemandem kann man trauen, und alle menschlichen Beziehungen sind brüchig. Die einzigen Ausnahmen scheinen die Oberköchin und ihre Sekretärin Therese zu sein, auch wenn die Oberköchin Karls Geschichte nicht glaubt. Diese beiden Frauen bleiben die einzigen Menschen, die für Karl freundliche Gefühle haben und ihn gut behandeln; alle übrigen Frauen, vom vergewaltigenden Dienstmädchen bis zur hysterischen Brunelda, sind tyrannisch und besitzergreifend.

Aus Theresas Weinen bei Karls Entlassung kann man schließen, dass sie ihn liebt - doch dass Karl dieses Gefühl erwidern würde, erfährt man an keiner Stelle. Überhaupt scheint Karl für niemanden positive Gefühle zu haben. Wir erfahren nur von Gefühlen des Ekels und des Abscheus. Für Kafkas Helden gibt es keine Liebe; nicht, weil er niemanden finden könnte, der ihn liebt, sondern weil er selbst nicht lieben kann. Sein ganzes Sinnen und Trachten scheint nur auf Anpassung gerichtet zu sein. Er ist strebsam und brav, und wenn die himmelschreienden Ungerechtigkeiten nicht wären, wäre er in Amerika bestimmt schon etwas geworden. Seine Persönlichkeit scheint überhaupt keine Substanz zu besitzen. Sein Charakter weist keine individuellen Züge auf. Er hat keine anderes Ziel, als irgendwo ein biederer Angestellter zu sein, der seine Pflichten erfüllt, so gut er kann. Durch Strebsamkeit glaubt, er sich einen Platz in der Gesellschaft erobern zu können, doch dass es emotionale Bindungen zwischen Menschen geben kann, das wird ihm nicht klar. So bleiben seine Lebensmöglichkeiten beschränkt. Er kann die liebenswerten Menschen nicht an sich binden und gerät immer wieder unter die boshaften und tyrannischen Charaktere. Doch am Ende des Textes, im zweiten Fragment, hat sich Karl mit dieser Welt abgefunden: "Auf solche Reden hörte Karl kaum mehr hin, jeder nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen. War man einmal daran gewöhnt, klang es nicht anders als das regelmäßige Uhrenschlagen."

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