Biographie Georg Büchner (Seite 9)
Geht die Beschäftigung mit der Anatomie übergangslos in philosophische Studien über und überlappt sich sogar mit diesen, so bleibt Büchner doch noch Zeit, seinen literarischen Projekten nachzugehen. Im Januar 1836 hat der Cotta-Verlag ein Lustspielwettbewerb ausgeschrieben – zwischen Barben und Spinoza muss Büchner im ersten Halbjahr 1836 auch an Leonce und Lena gearbeitet haben, denn zum Einsendeschluss am 1. Juli reicht er eine Fassung des Stückes ein, die allerdings erst verspätet eintrifft und deshalb nicht mehr zum Wettbewerb zugelassen wird. Wie er darauf reagiert, ist nicht überliefert, jedenfalls überantwortet er aber den Text nicht der Schublade, sondern arbeitet weiter daran.
Irgendwann im Spätsommer muss er auch noch mit Skizzen für jenes Werk begonnen haben, das, obwohl nur Fragment, eines der bedeutendsten Dramen des Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum werden sollte: Woyzeck. Wieder dient historisches Material als Vorlage. Die wichtigste Quelle ist das Gutachten, das 1821 von Hofrat Prof. Dr. Johann Christian August Clarus zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Perückenmachergesellen Johann Christian Woyzeck verfasst worden ist, der seine Geliebte erstochen hat. Zusätzlichen Stoff liefern Aktenstücke aus zwei weiteren, ähnlich gelagerten Kriminalfällen. Und doch ist Woyzeck alles andere als ein Dokumentarstück. Vielleicht hat die Genauigkeit des Quellenstudiums es überhaupt erst erlaubt, die überindividuellen Aspekte des physischen, sozialen und seelischen Leids mit einer derart atemberaubenden Wucht und Schonungslosigkeit auf die Bühne zu bringen.
Aber auch dies ist nicht die letzte literarische Arbeit Georg Büchners. Fast gleichzeitig scheint er sich mit einem weiteren Projekt beschäftigt zu haben: Pietro Aretino, einem Drama über den ob seiner freizügigen Darstellung der Sexualität berüchtigten italienischen Dichter der Renaissance. Nur Indizien lassen auf die Existenz dieses Werkes schließen, das vollständig verschollen ist (sofern Teile davon jemals zu Papier gebracht worden sind). Dass Minna Jaeglé die Handschrift wegen der vielen darin enthaltenen Anzüglichkeiten vernichtet haben soll, ist eine nicht eben fromme Legende: Ganz im Gegenteil ist gerade sie nach Büchners Tod neben dessen Bruder Ludwig und Karl Gutzkow sehr bemüht, das Werk ihres Verlobten der Nachwelt zugänglich zu machen. Überhaupt ist Minna eine außerordentliche Stütze für Büchner, und zwar nicht nur in Strassburg, das ihm letztlich durch ihre Anwesenheit zur zweiten Heimat wird, sondern auch aus der Ferne – wer weiß, wie Büchner ohne die Sicherheit ihrer Zuneigung die vielen einsamen, gefährdeten Tage seines Lebens überstanden hätte.
»In einem Seitengebüsch war auf einem Schragen ein Faß Bier aufgelegt, um unsere Gäste in der Pause nicht verdursten zu lasen. So war denn nicht nur für die Kunst, sondern auf gut Münchnerische Weise auch für die Kehle und für den Magen gesorgt«.
Max Halbe (mitte hinten): Jahrhundertwende
Büchners Manuskript mit Skizze am Rande
»Vater! Ich komme. Ja, mein himmlischer Vater. Du rufst mich, dein gnädiger Wille geschehe! danke! Herzlichen dank, Preiß und Ehre sey dier, allerbarmer, daß du bey aller meiner grossen Schult, dennoch liebreich auf mich blickst, und mich würdigst, Dein zu seyn! Dank sey dier, daß du nach so vielen außgestandenen Leiden, die Thränen trocknest, die ich dier so manche wäyhte, Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! dier lebe ich, dier Sterbe ich, dein bin ich tott, und lebendig, amen, Herr Hilf! Herr, laß wohl gelingen, amen.«
Johann Christian Woyzecks »letztes Gebet«
»Der Inquisit hegt allerhand irrige, phantastische und abergläubische Einbildungen von verborgenen und übersinnlichen Dingen, denen bei ihm teils Mangel an Kenntnis und Erziehung, teils Leichtgläubigkeit zum Grunde liegt [...]. Aus den im Vorhergehenden dargestellten Tatsachen und erörterten Gründen schließe ich: daß Woyzecks angebliche Erscheinungen und übrigen ungewöhnlichen Begegnisse als Sinnestäuschungen, welche durch Unordnungen des Blutumlaufes erregt und durch seinen Aberglauben und Vorurteile zu Vorstellungen von einer objektiven und über-sinnlichen Veranlassung gesteigert worden sind, betrachtet werden müssen [...].«
Johann Christian August Clarus: 2. Gutachten
»Übrigens erhellet aus den Akten, daß die Woostin [...] ihm für den Tag, wo die Mordtat vorgefallen, [...] eine Zusammenkunft versprochen, ihm aber nicht Wort gehalten, sondern mit dem Soldaten Böttcher einen Spaziergang gemacht, [...] daß er ferner gegen Abend [...] in der Hausflur des Hauses aber, wo die Woostin gewohnt, und als diese ihm etwas gesagt, wodurch er in Zorn geraten, die Tat voll-zogen [...].«
2. Clarus-Gutachten
Einer von 16 Kupferstichen von Marcantonio Raimondi nach Giulio Romano. Pietro Aretino schrieb dazu seine Sonetti lussuriosi. (rechts)