Ungekürztes Werk "Joseph" von Annette von Droste-Hülshoff

Annette von Droste-Hülshoff

Joseph

Eine Kriminalgeschichte

(Rüschhaus 1844–1845)

Nach den Erinnerungen einer alten Frau mitgeteilt von einem alten Moortopf, der auf seinem eigenen Herd sitzt und sich selbst kocht.

Die Zeit schreitet fort. Das ist gut, wenigstens in den meisten Beziehungen. Aber wir müssen mitrennen, ohne Rücksicht auf Alter, Kränklichkeit und angeborene Apathie. Das ist mitunter sehr unbequem.

In meiner Kindheit, wo das Sprichwort »Bleib im Lande und nähre dich, redlich« seine strenge Anwendung fand; wo die Familien aller Stände ihre Sprossen wie Bananenbäume nur in den nächsten Grund steckten und die Verwandtschaften so verwickelt wurden, daß man auf sechs Meilen Weges jeden Standesgenossen frischweg »Herr Vetter« nannte und sicher unter hundertmal kaum einmal fehlte; in jener Zeit kannte ein ordinärer Mensch mit zehn Jahren jeden Ort, den seine leiblichen Augen zu sehen bestimmt waren, und er konnte achtzig Jahre nacheinander sich ganz bequem seinen Pfad austreten.

Jetzt ist es anders. Die kleinen Staaten haben aufgehört; die großen werfen ihre Mitglieder umher wie Federbälle, und das ruhigste Subjekt muß sich entweder von allen Banden menschlicher Liebe lossagen oder sein Leben auf Reisen zubringen, je nach den Verhältnissen umherfahrend wie ein Luftballon, oder noch schlimmer immer denselben Weg angähnend wie ein Schirrmeister; kurz, nur die Todkranken und die Bewohner der Narrenspitäler dürfen zu Hause bleiben, und Sterben und Reisen sind zwei unabwendbare Lebensbedingungen geworden. Ich habe mich nicht eben allzuweit umgesehen, doch immer weiter, als mir lieb ist. Es gibt keine Nationen mehr, sondern nur Kosmopoliten, und sowohl Marqueurs als Bauernmädchen in fremdländischen Kleidern. Französische und englische Trachten kann ich auch zu Hause sehen, ohne daß es mir einen Heller kostet. Es macht mir wenig Spaß, einer Schweizerin mit großen Hornkämmen in den Haaren fünf Batzen zu geben, damit sie sich in ihre eigene Nationaltracht maskiert, oder mir für die nächste Bergtour tags vorher ­einen Eremiten in die Klause zu bestellen. Wäre nicht die ewig große, unwandelbare Natur in Fels, Wald und Gebirg (den Strömen hat man auch bunte Jacken angezogen), ich würde zehnmal lieber immer bei den ewigen alten guten Gesichtern bleiben, die mit mir gelebt, gelitten und meine Toten begraben haben.

Nur zwei Gegenden, – ich sage nur, was ich gesehen habe; wo ich nicht war, mögen meinetwegen die Leute Fischschwänze haben, ich bin es ganz zufrieden – mir selbst sind nur zwei Landstriche bekannt geworden, wo ich den Odem einer frischen Volkstümlichkeit eingesogen hatte, ich meine den Schwarzwald und die Niederlande. Dem erstern kommt wohl die Nähe der Schweiz zustatten. Wer vor dem Gebirge steht, will nichts als hinüber ins Land der Freiheit und des Alpglühens, der Gems- und Steinböcke, und wer von drüben kommt, nun, der will nichts als nach Hause oder wenigstens recht weit weg. So rollt das Verderben wie eine Quecksilberkugel spurlos über den schönen, reinen Grund des stolzen Waldes, um erst jenseits zu oxydieren. (Wenn nämlich Quecksilber Oxyd niederschlägt, was ich nicht bestimmt behaupten mag, da ich es nur bis zu Salomons Weisheit, das heißt zum Bewußtsein schmählicher Unwissenheit in vielen Dingen zwischen Himmel und Erde gebracht habe.)

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