Interpretation "Mein Jahrhundert" von Günter Grass
Noch vor dem offiziellen Erscheinen brachte 'Die Zeit' einen Vorabdruck dieses Werkes, das einhundert kleine, aber verschiedenartige Erzähltexte umfasst. Texte, die gleichzeitig einhundert Jahre deutscher Historie auf eine Weise wiedergeben, als hätten sie der offiziellen Geschichtsschreibung noch etwas entgegenzusetzen.
In Mein Jahrhundert hat Grass wieder und ganz bewusst den Blick von unten gesucht und es erneut gewagt, stets aus Sicht des oder der Betroffenen zu erzählen. Das geschieht mal im Hochdeutschen, mal mundartlich, mitunter sehr zügig, und es scheint dabei auf den ersten Blick überhaupt keine Rolle zu spielen, ob es sich bei dem Erzähler um Opfer oder Täter handelt. Es ist ebenso möglich, dass dies durch einen Brief oder einen Monolog passiert, genauso gut bedient sich Grass aber auch der Dialogform. Gleichwohl ist es in seiner Gesamtheit ein übersichtliches Stück Zeitgeschichte geworden, das er hier, nicht ohne Doppelsinn, vorweist.
In der Aufmachung ist ein großes und dickes Buch entstanden, das unterhaltsam anmutet, schon dadurch, weil jedes einzelne Jahr für sich in Farbbildern gezeichnet ist und auch Text von einhundert Jahren beinhaltet. Aber auch wenn man äußerlich noch glaubt, es sei ein leicht geschriebenes Familienbuch, bekommt man spätestens beim Lesen jenen fein pointierten Grass zu spüren, der mehr als unterhalten will und der Geschichte aufzeigt. Man merkt bald, dass dies die Geschichte unterschiedlicher Menschen ist, etwas, das ihnen tatsächlich widerfahren ist.
Die Short-Storys scheinen eine neu gefundene Form des Günter Grass, er verwendet Briefe und Leserbriefe, Monologe und Dialoge oder erfindet Begegnungen, in die der Erfahrene Erfahrungen hineinbaut. Wieder ist er ein scharfzüngiger, ironischer Erzähler, einer, der gleichnishafte Erkenntnisse von sich gibt. Und wie natürlich stellt er hier das Banale neben das Schockierende, den Alltag neben das Kuriosum. So, wie sich ein Tag im Kleinen ausnehmen kann, so baut er die Jahre zu einem Jahrhundert zusammen, lässt die kurzen Geschichten zur Geschichte werden. Das würdigt selbst Marcel Reich-Ranicki.