Kurzgeschichten (ungekürzt) von Franz Kafka

Franz Kafka

Kurzgeschichten

Beschreibung eines Kampfes

Und die Menschen gehn in Kleidern
Schwankend auf dem Kies spazieren
Unter diesem großen Himmel,
Der von Hügeln in der Ferne
Sich zu fernen Hügeln breitet.

I

Gegen zwölf Uhr standen schon einige Leute auf, verbeugten sich, reichten einander die Hände, sagten, es wäre sehr schön gewesen, und gingen dann durch den großen Türrahmen ins Vorzimmer, sich anzukleiden. Die Hausfrau stand mitten in dem Zimmer und machte bewegliche Verbeugungen, während in ihrem Rock gezierte Falten sich schaukelten.

Ich saß an einem kleinen Tischchen – es hatte drei gespannte dünne Beine – nippte gerade an dem dritten Gläschen Benediktiner und übersah im Trinken zugleich meinen kleinen Vorrat von Backwerk, das ich selbst ausgesucht und aufgeschichtet hatte.

Da sah ich meinen neuen Bekannten ein wenig zerrauft und aus der Ordnung geraten an dem Türpfosten eines Nebenzimmers erscheinen, aber ich wollte wegsehn, denn es ging mich nichts an. Er dagegen kam auf mich zu und zerstreut über meine Beschäftigung lächelnd sagte er: “Verzeihen Sie, daß ich zu Ihnen komme. Aber ich bin bis jetzt mit meinem Mädchen allein in einem Nebenzimmer gesessen. Von halb elf an. Sie, Mensch, das war einmal ein Abend. Ich weiß schon, es ist nicht recht, daß ich Ihnen das erzähle, denn wir kennen ja einander kaum. Nicht wahr, auf der Treppe sind wir heute abend einander begegnet und haben als Gäste des gleichen Hauses ein paar Worte gesprochen. Und jetzt – aber Sie müssen mir – ich bitte – verzeihen, das Glück hält es einfach nicht in mir aus, ich konnte mir nicht helfen. Und da ich sonst keine Bekannten hier habe, denen ich vertraue –”

Ich sah ihn traurig an – das Stück Fruchtkuchen, das ich im Munde hatte, schmeckte nicht besonders – und sagte in sein hübsch gerötetes Gesicht hinauf:

“Ich bin natürlich froh darüber, daß ich Ihnen vertrauenswürdig scheine, aber unzufrieden damit, daß Sie sich mir anvertraut haben. Und Sie selbst, wären Sie nicht so verwirrt, müßten es fühlen, wie unpassend es ist, einem, der allein sitzt und Schnaps trinkt, von einem liebenden Mädchen zu erzählen.” Als ich dieses gesagt hatte, setzte er sich mit einem Ruck nieder, legte sich zurück und ließ seine Arme hängen. Dann drückte er sie mit gespitzten Ellbogen zurück und begann mit ziemlich lauter Stimme vor sich hinzusprechen:

“Noch vor einem Weilchen dort in dem Zimmer waren wir allein, das Annerl mit mir. Und ich habe sie geküßt, geküßt – habe – ich – sie auf ihren Mund, ihre Ohren, ihre Schultern. Mein Gott und Herr!”

Einige Gäste, die hier ein etwas lebhafteres Gespräch vermuteten rückten gähnend näher zu uns. Ich stand daher auf und sagte, daß es alle hören konnten:

“Also gut, wenn Sie wollen, dann gehe ich mit, aber ich bleibe dabei, daß es ein Unsinn ist, jetzt im Winter und in der Nacht auf den Laurenziberg zu gehn. Überdies ist es kalt geworden und da ein wenig Schnee gefallen ist, sind die Wege draußen wie Schlittschuhbahnen. Nun, wie Sie wollen –”

Er sah mich zuerst staunend an und öffnete seinen Mund mit den nassen Lippen; dann aber, als er die Herren sah, die schon ganz in der Nähe waren, lachte er, stand auf und sagte:

“O doch, die Kühle wird gut tun; unsere Kleider sind voll Hitze und Rauch; dann bin ich auch ein wenig betrunken, ohne gerade viel getrunken zu haben; ja, wir werden uns verabschieden und dann werden wir gehn.” Wir gingen also zur Hausfrau und als er ihr die Hand küßte, sagte sie:

“Nein, ich bin froh, daß Sie heute so glücklich aussehen.” Die Güte dieser Worte rührte ihn, und er küßte noch einmal ihre Hand; da lächelte sie. Ich mußte ihn fortziehn. Im Vorzimmer stand ein Stubenmädchen, wir sahen sie jetzt zum erstenmal. Sie half uns in die Überröcke und nahm dann eine kleine Handlampe, um uns über die Treppe zu leuchten. Ihr Hals war nackt und nur unter dem Kinn von einem schwarzen Samtband umbunden und ihr lose bekleideter Körper war gebeugt und dehnte sich immer wieder, als sie vor uns die Treppe hinunterstieg, die Lampe niederhaltend. Ihre Wangen waren gerötet, denn sie hatte Wein getrunken und in dem schwachen, das ganze Stiegenhaus erfüllenden Lampenschein zitterten ihre Lippen.

Unten an der Treppe stellte sie die Lampe auf eine Stufe nieder, ging einen Schritt auf meinen Bekannten zu und umarmte ihn und küßte ihn und blieb in der Umarmung. Erst als ich ihr ein Geldstück in die Hand legte, löste sie schläfrig ihre Arme von ihm, öffnete langsam das kleine Haustor und ließ uns in die Nacht.

Über der leeren, gleichmäßig erhellten Straße stand ein großer Mond im leicht bewölkten und dadurch weiter ausgebreiteten Himmel. Auf dem gefrorenen Schnee durfte man nur kleine Schritte tun.

Kaum waren wir ins Freie getreten, als ich offenbar in bedeutende Munterkeit geriet. Ich hob meine Beine, ließ die Gelenke knacken, ich rief über die Gasse einen Namen hin, als sei mir ein Freund um die Ecke entwischt, ich warf den Hut im Sprunge hoch und fing ihn prahlerisch auf.

Mein Bekannter aber ging unbekümmert neben mir her. Er hielt den Kopf geneigt. Er redete auch nicht.

Das wunderte mich, denn ich hatte mir ausgerechnet, seine Freude würde ihn toll machen, wenn ich ihn aus der Gesellschaft hinausbrächte. Nun konnte auch ich stiller werden. Gerade hatte ich ihm einen aufmunternden Schlag über den Rücken gegeben, als ich seinen Zustand plötzlich nicht mehr begriff und meine Hand zurückzog. Da ich sie nicht brauchte, steckte ich sie in die Tasche meines Rockes.

Wir gingen also schweigend. Ich achtete darauf, wie unsere Schritte klangen und konnte nicht begreifen, daß es mir unmöglich war, mit meinem Bekannten im gleichen Schritt zu bleiben. Dabei war klare Luft, ich konnte seine Beine deutlich sehen. Hie und da lehnte auch jemand in einem Fenster und betrachtete uns.

Als wir in die Ferdinandstraße kamen, bemerkte ich, daß mein Bekannter eine Melodie aus der ‚Dollarprinzessin‘ zu summen begann; es war leise, aber ich hörte es ganz gut. Was sollte das? Wollte er mich beleidigen? Nun ich war sofort bereit, auf diese Musik zu verzichten und auf den ganzen Spaziergang überdies. Ja, warum sprach er denn nicht mit mir? Wenn er mich aber nicht nötig hatte, warum hatte er mich dann nicht in meiner Ruhe gelassen, dort in der Wärme bei Benediktiner und süßem Zeug. Ich war es wahrhaftig nicht gewesen, der sich um diesen Spaziergang gerissen hatte. Im übrigen konnte ich auch selbständig spazierengehen. Ich war eben in Gesellschaft gewesen, hatte einen undankbaren jungen Menschen vor Beschämung gerettet und spazierte nun im Mondlicht herum. Auch das ging. Den Tag über im Amt, abends in Gesellschaft, in der Nacht auf den Gassen und nichts übers Maß. Eine in ihrer Natürlichkeit schon grenzenlose Lebensweise!

Doch mein Bekannter ging noch hinter mir, ja er beschleunigte seinen Gang, als er merkte, daß er zurückgeblieben war. Es wurde nichts gesprochen, man konnte auch nicht sagen, daß wir liefen. Ich aber überlegte, ob es nicht gut wäre, in eine Seitengasse einzubiegen, da ich doch im Grunde zu einem gemeinsamen Spaziergang nicht verpflichtet war. Ich konnte allein nach Hause gehn und keiner durfte mich hindern. Ich würde dann sehen, wie mein Bekannter an der Öffnung meiner Gasse unwissend vorüberkommt. Adieu, mein lieber Bekannter! In meinem Zimmer wird mir bei der Ankunft warm sein, ich werde auf meinem Tisch die Stehlampe in ihrem eisernen Gestell entzünden und, bin ich dann fertig, werde ich mich in meinen Armstuhl legen, der auf dem zerrissenen morgenländischen Teppich steht. Schöne Aussichten! Warum denn nicht? Aber dann? Kein dann. Die Lampe wird im warmen Zimmer leuchten, mir im Armstuhl auf die Brust. Nun, dann werde ich auskühlen und Stunden allein zwischen den bemalten Wänden verbringen, auf dem Fußboden, welcher in dem an der Rückwand aufgehängten Goldrahmenspiegel schräg abfällt.

Meine Beine wurden müde und schon war ich entschlossen auf jeden Fall nach Hause zu gehen und mich in mein Bett zu legen, als ich in Zweifel geriet, ob ich jetzt beim Weggehen meinen Bekannten grüßen sollte oder nicht. Aber ich war zu furchtsam, um ohne Gruß wegzugehen, und zu schwach, um laut rufend zu grüßen. Ich blieb daher stehen, stützte mich an eine mondbeschienene Häusermauer und wartete.

Mein Bekannter kam über die Trottoirfläche weg auf mich zu, rasch, als sollte ich ihn auffangen. Er zwinkerte mit den Augen wegen irgendeines Einverständnisses, das ich offenbar vergessen hatte.

“Was denn, was denn?” fragte ich.

“Aber nichts”, sagte er, “ich wollte Sie nur um Ihre Meinung über jenes Stubenmädchen fragen, das mich im Flur geküßt hat. Wer ist das Mädchen? Haben Sie sie früher schon gesehen? Nein? Ich auch nicht. War es überhaupt ein Stubenmädchen? Schon wie sie die Treppe vor uns hinunterging, wollte ich Sie danach fragen.” “Daß sie ein Stubenmädchen war und nicht einmal das erste Stubenmädchen, habe ich gleich an ihren roten Händen gesehn, und als ich ihr das Geld in die Hand gab, spürte ich die harte Haut.” “Aber das beweist nur, daß sie schon einige Zeit im Dienst steht, das glaube ich ja auch.”

“Sie können darin recht haben. In der Beleuchtung dort konnte man ja nicht alles unterscheiden, aber auch mich erinnerte ihr Gesicht an eine ältere Offizierstochter meiner Bekanntschaft.”

“Mich nicht”, sagte er.

“Das soll mich nicht hindern, nach Hause zu gehn; es ist spät und morgen früh habe ich Amt; man schläft dort schlecht.” Dabei reichte ich ihm die Hand zum Abschied hin.

“Pfui, die kalte Hand”, rief er, “mit einer solchen Hand möchte ich nicht nach Hause gehn. Sie hätten sich, mein Lieber, auch küssen lassen sollen, das war ein Versäumnis, nun, Sie können es ja nachholen. Aber schlafen? In dieser Nacht? Was fällt Ihnen denn ein? Bedenken Sie doch, wieviel glückliche Gedanken man mit der Decke erstickt, wenn man allein in seinem Bette schläft, und wieviel unglückliche Träume man mit ihr wärmt.”

“Ich ersticke nichts und wärme nichts”, sagte ich.

“Aber lassen Sie mich, Sie sind ein Komiker”, schloß er. Gleichzeitig begann er weiterzugehn und ich folgte ihm, ohne es zu bemerken, denn mich beschäftigte sein Ausspruch.

Ich glaubte aus diesem Ausspruch zu erkennen, daß mein Bekannter in mir etwas vermutete, was zwar nicht in mir war, mich aber bei ihm in Beachtung brachte dadurch, daß er es vermutete. Gut also, daß ich nicht nach Hause gegangen war. Wer weiß, dieser Mensch, der jetzt neben mir mit in der Kälte rauchendem Mund an Stubenmädchensachen dachte, war vielleicht imstande, mir vor den Leuten Wert zu geben, ohne daß ich ihn erst erwerben mußte. Daß mir ihn nur die Mädchen nicht verderben! Mögen sie ihn küssen und drücken, das ist ja ihre Pflicht und sein Recht, aber entführen sollen sie mir ihn nicht. Wenn sie ihn küssen, küssen sie mich ja auch ein wenig, wenn man will; mit dem Mundwinkel gewissermaßen; wenn sie ihn aber entführen, dann stehlen sie mir ihn. Und er soll immer bei mir bleiben, immer, wer soll ihn beschützen, wenn nicht ich. Er ist ja so dumm. Im Februar sagt man ihm: Du komm auf den Laurenziberg, und er läuft mit. Und wie, wenn er jetzt fällt, wie, wenn er sich verkühlt, wie, wenn ein Eifersüchtiger aus der Postgasse heraus ihn überfällt? Was soll dann mit mir geschehn, soll ich dann aus der Welt herausgeworfen werden? Das möchte ich doch sehn, nein, mich wird er nicht mehr los werden.

Morgen wird er mit Fräulein Anna reden, gewöhnliche Dinge zuerst, wie es natürlich ist, aber plötzlich wird er es nicht mehr verschweigen können: Gestern, Annerl, in der Nacht, nach unserer Gesellschaft, weißt Du, war ich mit einem Menschen beisammen, wie Du ihn ganz bestimmt noch nie gesehen hast. Er sieht aus, wie soll ich ihn beschreiben, – wie eine Stange in baumelnder Bewegung sieht er aus, mit einem schwarzbehaarten Schädel oben. Sein Körper ist mit vielen kleinen mattgelben Stoffstückchen behängt, die ihn vollständig bedeckten, denn bei der gestrigen Windstille lagen sie glatt an. Wie, Annerl, Dir vergeht der Appetit? Ja, dann ist es meine Schuld, dann habe ich das Ganze schlecht erzählt. Wenn Du ihn nur gesehen hättest, wie schüchtern er neben mir ging, wie er mir meine Verliebtheit ansah, was ja kein Kunststück war, und um mich in ihr nicht zu stören, eine große Strecke allein vorausging. Ich glaube, Annerl, Du hättest ein wenig gelacht und ein wenig Dich gefürchtet, mich aber freute seine Gegenwart. Denn wo warst Du, Annerl? In Deinem Bett warst Du und Afrika war nicht entfernter als Dein Bett. Manchmal aber war mir wahrhaftig, als höbe sich mit den Atemzügen seiner platten Brust der gestirnte Himmel. Du glaubst, ich übertreibe? Nein, Annerl; bei meiner Seele, nein; bei meiner Seele, die Dir gehört, nein.

Und ich erließ meinem Bekannten – wir machten gerade die ersten Schritte auf den Franzensquai – nicht den geringsten Teil der Beschämung, die er bei solcher Rede fühlen mußte. Nur gingen damals meine Gedanken ineinander über, denn die Moldau und die Stadtviertel am andern Ufer liegen in gemeinsamem Dunkel. Einige Lichter brannten dort und spielten mit den schauenden Augen.

Wir kreuzten die Fahrbahn, um zum Flußgeländer zu kommen, dort blieben wir stehen. Ich fand einen Baum, um mich anzulehnen. Da es vom Wasser her kalt wehte, zog ich meine Handschuhe an, seufzte grundlos, wie man es in der Nacht vor einem Flusse wohl tun mag, dann aber wollte ich weiter. Doch mein Bekannter schaute ins Wasser und rührte sich nicht. Dann trat er näher an das Geländer, hatte schon die Beine an dem Eisen, stützte die Ellbogen auf und legte die Stirn in die Hände. Was denn noch? Ich fror ja und mußte den Rockkragen in die Höhe stülpen. Mein Bekannter streckte sich, den Rücken, die Schultern, den Hals und hielt den Oberkörper, der auf seinen gespannten Armen ruhte, über das Geländer vorgebeugt.

“Die Erinnerungen, nicht wahr?” sagte ich, “ja, schon das Erinnern ist traurig, wie erst sein Gegenstand! Geben Sie sich solchen Sachen nicht hin, das ist nichts für Sie und nichts für mich. Man schwächt ja dadurch – nichts ist klarer – seine gegenwärtige Position, ohne die frühere zu stärken, abgesehen davon, daß die frühere Stärkung nicht mehr nötig hat. Glauben Sie denn, ich hätte keine Erinnerungen? Oh, zehn für jede der Ihrigen. Jetzt zum Beispiel könnte ich mich erinnern, wie ich in L. auf einer Bank gesessen bin. Es war am Abend, auch am Flußufer. Natürlich im Sommer. Und es ist meine Gewohnheit, an so einem Abend die Beine zu mir heraufzuziehn und zu umschlingen. Den Kopf hatte ich gegen die hölzerne Lehne der Bank gelegt, von wo ich die wolkenhaften Berge des andern Ufers ansah. Eine Geige spielte zart im Strandhotel. Auf beiden Ufern fuhren hin und wieder schiebende Züge mit erglänzendem Rauch.”

Mein Bekannter unterbrach mich, er wandte sich plötzlich um, es sah fast aus, als sei er erstaunt, mich noch hier zu sehn. “Ach, ich könnte noch viel mehr erzählen”, sagte ich, nichts weiter.

“Denken Sie nur, und immer kommt es so”, begann er. “Als ich heute meine Treppe hinunterstieg, um vor der Abendgesellschaft noch einen kleinen Spaziergang zu machen, mußte ich mich wundern wie meine Hände in den Manschetten hin und her schlenkerten und so lustig haben sie das gemacht. Da dachte ich mir gleich: Wart, heut kommt was. Und es ist auch gekommen.” Dieses sagte er schon im Gehen und sah mich lächelnd mit großen Augen an. So weit hatte ich es also gebracht. Er durfte mir solche Sachen erzählen, dabei lächeln und große Augen auf mich machen. Und ich, ich mußte mich zurückhalten, daß ich meinen Arm nicht um seine Schultern legte und ihn in seine Augen küßte zur Belohnung dafür, daß er mich so gar nicht brauchen konnte. Das Schlimmste aber war, daß auch das nichts mehr schaden konnte, weil es nichts ändern konnte, denn weg mußte ich nun, weg auf jeden Fall.

Als ich noch rasch nach einem Mittel suchte, um wenigstens ein Weilchen bei meinem Bekannten bleiben zu dürfen, fiel mir ein, daß ihm vielleicht meine lange Gestalt unangenehm sein könnte, neben der er seiner Meinung nach zu klein erschien. Und dieser Umstand quälte mich – es war freilich späte Nacht und wir begegneten fast niemandem – doch so sehr, daß ich meinen Rücken gebückt machte, bis meine Hände im Gehen meine Knie berührten. Damit aber mein Bekannter die Absicht nicht bemerkte, veränderte ich meine Haltung nur ganz allmählich, suchte seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken, drehte ihn sogar einmal zum Flusse hin und zeigte ihm mit ausgestreckter Hand die Bäume der Schützeninsel und wie die Brückenlampen im Flusse sich spiegelten.

Aber mit plötzlicher Wendung sah er mich an – ich war noch nicht ganz fertig – und sagte: “Ja, was ist denn das? Sie sind ja ganz krumm! Was treiben Sie da?” “Ganz richtig”, sagte ich, den Kopf an seiner Hosennaht, weshalb ich auch nicht ordentlich aufschauen konnte. “Sie haben ein scharfes Auge!”

“Also hoppla! Stehen Sie doch auf! Solche Dummheiten!” “Nein”, sagte ich und schaute auf die nahe Erde, “ich bleibe, wie ich bin.”

“Das muß ich aber sagen, ärgern können Sie einen. Dieser unnütze Aufenthalt! Also machen Sie endlich Schluß!”

“Wie Sie schreien! In der ruhigen Nacht!” sagte ich.

“Übrigens, ganz nach Ihrem Belieben”, fügte er noch hinzu und nach einem Weilchen: “Es ist dreiviertel auf eins.” Er las die Zeit offenbar von der Uhr des Mühlenturmes ab.

Schon stand ich wie an den Haaren in die Höhe gerissen. Ein Weilchen lang hielt ich den Mund offen, damit mich die Aufregung durch den Mund verlasse. Ich verstand ihn, er schickte mich fort. Bei ihm sei kein Platz für mich, und wenn vielleicht doch einer hier ist, so sei er wenigstens nicht zu finden. Warum ich, nebenbei gesagt, so darauf versessen sei, bei ihm zu bleiben. Nein, ich möchte nur weggehn – und dies sofort – zu meinen Verwandten und Freunden, die schon auf mich warten. Hätte ich aber keine Verwandte und Freunde, dann müßte ich mir allerdings allein forthelfen (was hilft die Klage!), nur dürfte ich nicht weniger schnell von hier weggehen. Denn bei ihm könne mir nichts mehr helfen, nicht meine Länge, nicht mein Appetit, nicht meine kalte Hand. Wenn es aber meine Meinung sei, daß ich bei ihm bleiben müsse, dann sei das eine gefährliche Meinung.

“Ich habe Ihre Mitteilung nicht gebraucht”, sagte ich, wie es auch der Wahrheit entsprach.

“Gott sei Dank, daß Sie endlich geradestehn. Ich habe doch nur gesagt, daß es dreiviertel eins ist.”

“Es ist schon gut”, sagte ich und steckte zwei Fingernägel in die Lücken meiner schauernden Zähne. “Wenn ich schon Ihre Mitteilung nicht brauchte, um wie viel weniger brauche ich eine Erklärung. Ich brauche nämlich nichts als Ihre Gnade. Bitte, bitte, nehmen Sie das zurück, was Sie gesagt haben!”

“Daß es dreiviertel eins ist? Aber mit Vergnügen, umsomehr, als dreiviertel längst vorüber ist.”

Er hob den rechten Arm, zuckte mit der Hand und horchte auf den Kastagnettenklang des Manschettenkettchens.

Jetzt kam offenbar der Mord. Ich werde bei ihm bleiben und er wird das Messer, dessen Griff er in der Tasche schon hält, an seinem Rock in die Höhe führen und dann gegen mich. Es ist unwahrscheinlich, daß er sich wundern wird, wie einfach die Sache ist, aber vielleicht doch, wer kann das wissen. Ich werde nicht schreien, ich werde ihn nur anschauen, solange die Augen es aushalten.

“Nun?” sagte er.

Vor einem entfernten Kaffeehaus mit schwarzen Scheiben ließ sich ein Polizeimann wie ein Eisläufer über das Pflaster gleiten. Sein Säbel behinderte ihn, er nahm ihn in die Hand, fuhr jetzt eine lange Strecke hin und beim Abschluß drehte er sich fast in einem Bogen. Endlich juchzte er noch schwach und, Melodien im Kopfe, fing er wieder zu schleifen an.

Erst dieser Polizeimann, der zweihundert Schritte von einem baldigen Mord nur sich selbst sah und hörte, machte mir eine Art von Angst. Ich stellte fest, daß es mit mir auf jeden Fall zu Ende war, ob ich mich erstechen ließ oder weglief. War es aber dann nicht besser wegzulaufen und mich damit der umständlichen, also schmerzlicheren Todesart auszusetzen. Die Gründe für die Vorzüge dieser Todesangst hatte ich nicht gleich bei der Hand, aber ich durfte den letzten Augenblick, der mir blieb, nicht mit dem Suchen von Gründen verbringen. Dazu war später Zeit, wenn ich nur den Entschluß hatte, und den Entschluß hatte ich.

Ich mußte weglaufen, es war ganz leicht. Jetzt beim Einbug zur Karlsbrücke nach links konnte ich nach rechts in die Karlsgasse springen. Sie war winklig, es gab dort dunkle Haustore und Weinstuben, die noch offen waren; ich mußte nicht verzweifeln.

Als wir unter dem Bogen am Ende des Quais auf den Kreuzherrenplatz hervortraten, rannte ich mit erhobenen Armen in jene Gasse. Doch vor einer kleinen Türe der Seminarkirche fiel ich, denn dort war eine Stufe, die ich nicht erwartet hatte. Es machte ein wenig Lärm, die nächste Laterne war entfernt genug, ich lag im Dunkel.

Aus einer Weinstube gegenüber kam ein dickes Weib mit einem Lämpchen, um nachzusehn, was auf der Gasse geschehen war. Das Klavierspiel drinnen wurde schwächer fortgesetzt, nur mit einer Hand, denn der Klavierspieler hatte sich zur Türe gewendet, die, bis jetzt halb offen, von einem Mann in hochzugeknöpftem Rocke völlig geöffnet wurde. Er spie aus und drückte dann das Weib so fest an sich, daß sie das Lämpchen heben mußte, um es zu schützen. “Es ist ja gar nichts geschehen ”, rief er ins Zimmer hinein, darauf drehten sich beide um, gingen ins Innere und die Türe wurde wieder zugemacht.

Als ich aufzustehn versuchte, fiel ich wieder hin. “Es ist Glatteis”, sagte ich und verspürte einen Schmerz im Knie. Aber doch freute es mich, daß mich die Leute aus der Weinstube nicht gesehen hatten und daß ich hier ruhig bis zur Dämmerung liegen bleiben konnte.

Mein Bekannter war wohl bis zur Brücke gegangen, ohne meinen Abschied bemerkt zu haben, denn er kam erst nach einer Weile zu mir. Ich merkte nicht, daß er überrascht war, als er sich zu mir bückte – er senkte fast nur den Hals ganz wie eine Hyäne – und mich mit weicher Hand streichelte. Er fuhr an meinen Wangenknochen auf und nieder und legte dann die Handfläche an meine Stirn: “Sie haben sich wehgetan, nicht wahr? Nun es ist Glatteis und man muß vorsichtig sein – haben Sie mir das nicht selbst gesagt? Der Kopf schmerzt Sie? Nein? Ach, das Knie. So. Das ist eine böse Sache.”

Aber er dachte nicht daran, mich aufzuheben. Ich stützte den Kopf auf meine rechte Hand – der Ellbogen lag auf einem Pflasterstein – und sagte: “Da sind wir also wieder einmal beisammen.” Und da ich wieder jene Angst bekam, drückte ich beide Hände gegen seine Schienbeine, um ihn so wegzuschieben. “Geh doch, geh doch”, sagte ich dabei.

Er hatte die Hände in den Taschen und sah über die leere Gasse hin, dann zur Seminarkirche und dann auf zum Himmel. Endlich, als in einer der umliegenden Gassen ein Wagen laut sich herumtrieb, erinnerte er sich an mich: “Ja, warum reden Sie denn nicht, mein Lieber? Ist Ihnen schlecht? Ja, warum stehen Sie denn eigentlich nicht auf? Soll ich einen Wagen suchen? Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen ein bißchen Wein da aus der Weinstube. Aber liegen bleiben dürfen Sie hier in der Kälte nicht. Und dann wollten wir doch auf den Laurenziberg.”

“Natürlich”, sagte ich und stand allein auf, aber mit starkem Schmerz. Ich schwankte gleich und mußte das Standbild Karl des Vierten streng ansehen, um meines Standpunktes sicher zu sein. Aber nicht einmal das hätte mir geholfen, wäre mir nicht eingefallen, daß ich von einem Mädchen mit schwarzem Samtband um den Hals geliebt würde, zwar nicht hitzig, aber treu. Und lieb war es da vom Mond, daß er auch mich beschien, und ich wollte aus Bescheidenheit mich unter die Wölbung des Brückenturmes stellen, als ich einsah, daß es bloß natürlich sei, daß der Mond alles bescheine. Daher breitete ich mit Freude meine Arme aus, um den Mond ganz zu genießen. Und es wurde mir leicht, als ich, Schwimmbewegungen mit den lässigen Armen machend, ohne Schmerz und Mühe vorwärts kam. Daß ich das früher nie versucht hatte! Mein Kopf lag in der kühlen Luft und gerade mein rechtes Knie flog am besten, ich lobte es durch Beklopfen. Und ich erinnerte mich, daß ich einmal einen Bekannten, der wahrscheinlich noch immer unter mir ging, nicht recht hatte leiden können, und an der ganzen Sache freute mich nur, daß mein Gedächtnis so gut war, daß es selbst solche Dinge bewahrte. Doch ich durfte nicht viel denken, denn ich mußte weiterschwimmen, wollte ich nicht zu sehr untertauchen. Aber damit man mir später nicht sagen dürfe, über dem Pflaster könne jeder schwimmen und es sei nicht des Erzählens wert, erhob ich mich durch ein Tempo über das Geländer und umkreiste schwimmend jede Heiligenstatue, der ich begegnete.

Bei der fünften – gerade hielt ich mich mit unmerklichen Schlägen über dem Trottoir – faßte mein Bekannter meine Hand. Da stand ich wieder auf dem Pflaster und fühlte einen Schmerz im Knie.

“Immer”, sagte mein Bekannter, mit einer Hand mich festhaltend, mit der andern auf die Statue der heiligen Ludmila zeigend, “immer habe ich die Hände dieses Engels links bewundert. Schauen Sie nur, wie zart sie sind! Wirkliche Engelshände! Haben Sie schon etwas Ähnliches gesehen? Sie nicht, aber ich ja, denn ich habe heute abend Hände geküßt.”

Für mich aber gab es jetzt eine dritte Möglichkeit, zugrunde zu gehen. Ich mußte mich nicht erstechen lassen, ich mußte nicht weglaufen, ich konnte mich einfach in die Luft werfen. Er soll nur auf seinen Laurenziberg gehn, ich werde ihn nicht stören, nicht einmal durch Weglaufen werde ich ihn stören.

Und nun schrie ich: “Los mit den Geschichten! Ich will nichts mehr in Brocken hören. Erzählen Sie mir alles, von Anfang bis zu Ende. Weniger höre ich nicht an, das sage ich Ihnen. Aber auf das Ganze brenne ich.” Als er mich ansah, schrie ich nicht mehr so. “Und auf meine Verschwiegenheit können Sie bauen! Erzählen Sie mir alles, was Sie auf dem Herzen haben. Einen so verschwiegenen Zuhörer wie mich haben Sie noch nicht gehabt.”

Und ziemlich leise, nah an seinem Ohr, sagte ich: “Und fürchten müssen Sie sich vor mir nicht, das ist wirklich überflüssig.”

Ich hörte ihn noch lachen.

Ich sagte: “Ja, ja. Ich glaube das. Ich zweifle nicht”, und dabei zwickte ich ihn mit meinen Fingern, soweit er sie freiließ, in seine Waden. Aber er spürte es nicht. Da sagte ich zu mir: “Warum gehst du mit diesem Menschen? Du liebst ihn nicht und du hassest ihn auch nicht, denn sein Glück besteht nur in einem Mädchen und es ist nicht einmal sicher, daß sie ein weißes Kleid trägt. Also ist dir dieser Mensch gleichgültig – wiederhole es – gleichgültig. Er ist aber auch ungefährlich, wie es sich erwiesen hat. Also geh mit ihm zwar weiter auf den Laurenziberg, denn du bist schon auf dem Wege in schöner Nacht, aber laß ihn reden und vergnüge dich auf deine Weise, dadurch – sage es leise – schützst du dich auch am besten.”

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