Interpretation "Götz von Berlichingen" von Johann Wolfgang Goethe

Freiheit und Gefangenschaft sind die beiden strukturbildenden Oppositionen des Dramas. Mit den Worten: "Es wird einem sauer gemacht, dieses bißchen Leben und Freiheit" betritt Götz die Bühne, und mit dem Wort "Freiheit!" auf den Lippen stirbt er im Gefängnis. Darauf seine Frau: "Nur droben, droben bei dir. Die Welt ist ein Gefängnis." Der Freiheit zugeordnet sind darüber hinaus die Begriffe der Natur und des Edlen, dessen Gegenpol als das Verderbte erscheint. Der "verderbten Welt" freilich gehört die Zukunft, wo "Nichtswürdige mit List regieren" werden.

"Stirb, Götz – du hast dich selbst überlebt." In Götz geht mit dem freien, d. h. reichsunmittelbaren Rittertum eine geschichtliche Epoche zu Ende. Das alte Reich, das sich in Kaiser Maximilian, bis heute bekannt als "der letzte Ritter", verkörpert, zerbricht unter den Machtansprüchen der Territorialherren. So lässt Goethe den Kaiser sagen: "Kein Fürst im Reich [ist] so klein, dem nicht mehr an seinen Grillen gelegen wäre als an meinen Gedanken." Die Fürsten als Repräsentanten des zentralistisch gelenkten (Klein-)Staats suchen auch in der historischen Realität dem ritterlichen Adel seine Unabhängigkeit zu nehmen, indem sie ihn an ihre Höfe holen. In Goethes Drama ist Berlichingens Gegenspieler Weislingen eine solche Figur, die ihre ritterliche Freiheit zugunsten der Höflingsexistenz aufgegeben hat: er ist "vom Ritter zum Hofschranzen umgeschaffen" worden.

Die Heraufkunft der neuen zentralistischen Staatsverwaltung geht aber einher mit der Rezeption des Römischen Rechts, das die alten, auf ungeschriebener Erfahrung beruhenden Rechtstraditionen ablöst – so auch das ritterliche Fehderecht, das sogenannte Faustrecht. Die Olearius-Szene bekommt damit ihre Funktion: Der Rechtsgelehrte Olearius beklagt, dass man glaube, "es sei genug, durch Alter und Erfahrung sich eine genaue Kenntnis des innern und äußern Zustandes der Stadt zu erwerben", dadurch seien "Verwirrung und Ungerechtigkeit unvermeidlich." So hält er ein Plädoyer für ein einheitliches, festgeschriebenes Rechtssystem: "Das alles bestimmen die Gesetze; und die Gesetze sind unveränderlich."

Die Figur des Götz steht somit an der Grenze zweier Epochen. Und da er sich der historischen Entwicklung, die er als eine Entwicklung zum Schlechten ansieht, nicht anpassen kann oder will, muss er zugrunde gehen.

Zweifellos lässt sich Götz von Berlichingen völlig legitim auch als Kritik Goethes an der Gesellschaft seiner eigenen Zeit interpretieren. Die heraufkommende Welt des höfischen Absolutismus, gegen die sich der dem alten Ständestaat verpflichtete Ritter vergeblich sträubt, prägt noch am Ende des 18. Jahrhunderts die Machtstrukturen in Gesellschaft und Politik – und genau gegen dieses System wendet sich das damalige Bürgertum in zunehmendem Maße.

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