Interpretation "Götz von Berlichingen" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

Wenn schließlich durch Aufkommen des Römischen Rechts das 'Faustrecht' verdrängt wird, so wird damit ebenso das eigenständige Handeln des Ritters beschnitten; die Faust, die er hat, um sich sein Recht zu verschaffen, wird damit überflüssig. Die Hand ist zu Recht als Zentralmetapher (Jeßing) des gesamten Stücks gedeutet worden. In ihr steckt das Motiv der Freiheit ebenso wie das der Verstümmelung – "sie haben mich nach und nach verstümmelt, meine Hand, meine Freiheit [...]."

Die zentrale Opposition von Freiheit und Gefangenschaft spiegelt sich auch in der Form des Götz von Berlichingen wider. Das Drama verwirklicht zum ersten Mal auf radikalste Weise die Befreiung von den aristotelischen Regeln der Einheit von Ort, Zeit und Handlung. In unstilisierter, bildhafter Prosa versucht Goethe mit zuweilen drastischer Ausdrucksweise der Realität möglichst nahezukommen. Das berühmte 'Götz-Zitat' mag stellvertretend stehen für eine Sprache, die man so auf der Bühne zumindest in Deutschland noch nicht – oder zumindest lange nicht mehr – gehört hat.

In seiner Rede Zum Schäkespearstag (1771, dem gleichen Jahr, in dem die erste Fassung, der Urgötz entstand) hat er im poetologischen Diskurs bereits die Motive vorgebildet, die auch den Götz strukturieren: "Ich zweifelte keinen Tag daran, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte."

Kerkermäßig und Fesseln vs. freie Luft, Hände und Füße – die zentralen Oppositionen des Götz sind hier programmatisch vorgegeben. "Die Ästhetik der althergebrachten, klassizistischen und aufklärerischen Dramatik ist das Gefängnis, aus dem der Sturm und Drang sich befreit." (Jeßing) Ausdrücklich kündigt der Goethe der Rede Zum Schäckespearstag den "Herrn der Regeln Fehde" an und sucht ihre "Türne zusammenzuschlagen." Das Freiheitskonzept umgreift also das poetologische wie das gesellschaftlich-politische Feld. Der Konflikt zwischen der Freiheit des Individuums und gesellschaftlichen Zwängen ist für Goethe der dramatische Konflikt überhaupt. Bei Shakespeare drehen sich seiner Auffassung nach alle Stücke "um den geheimen Punkt, [...] in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des ganzen zusammenstößt."

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