Interpretation "Das Erdbeben in Chili" von Heinrich von Kleist

Kleists vielschichtige Erzählung Das Erdbeben in Chili, die zunächst in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände unter dem Titel Jeronimo und Josephe veröffentlicht wird, muss vor verschiedenen Hintergründen betrachtet werden. Zum einen sind historische Kontexte zu berücksichtigen, dazu zählen das Erdbeben in Santiago 1647 und das Erdbeben von Lissabon 1755. Des Weiteren arbeitet Kleist in der Erzählung seine veränderte Weltsicht nach der ‚Kant-Krise’ auf. Und nicht zuletzt spielen auch gesellschaftskritische Aspekte eine wichtige Rolle für die Interpretation.

Die an den Beginn des Erdbeben in Chili gestellte Situation ist beispielhaft für die Kleistsche Erzählung. Ort und Zeit des Geschehens sowie eine der Hauptpersonen werden im ersten Satz genannt. Darüber hinaus besteht eine Extremsituation, ein ‚unerhörtes Ereignis’, mit dem sich der Mensch konfrontiert sieht, innerhalb dessen er sich behaupten muss. Hier: das Erdbeben.

Der (spätere) Titel vermittelt den Eindruck, es handle sich um eine historische Erzählung. In der Tat bezieht sich Kleist auf ein wirklich stattgefundenes Ereignis: Am 13. Mai 1647 erschütterte ein Erdbeben die chilenische Hauptstadt, bei dem ein Drittel der Bevölkerung (12.000 Menschen) ums Leben kommt. Kleist verlegt das Geschehen allerdings um einige Wochen; es ist die Rede vom Fronleichnamstag, der 1647 auf den 20. Juni fällt. Weitere Einzelheiten deuten darauf hin, dass es Kleist nicht um historische Detailtreue geht: So ändert er außerdem die Tageszeit von abends auf vormittags und erwähnt das Amt eines Erzbischofs, obgleich die Stadt erst im 19. Jahrhundert zum Erzbistum wird. Auch generell scheint die detailgetreue Reproduktion von Geschichte nur geringfügig Bedeutung zu haben, denn bereits im ersten Satz lenkt der Erzähler alle Aufmerksamkeit auf einen kleinen Ausschnitt des Geschehens: Jeronimo am Gefängnispfeiler.

Der Erzählung ist eine antagonistische Struktur zugrunde gelegt: sie beruht auf Widersprüchen und Doppeldeutigkeiten. Paradox wirkt bereits die am Anfang stehende Situation. Das vernichtende Erdbeben hält Jeronimo davon ab, Selbstmord zu begehen. Dass er sich – zum Anknüpfen des Stricks – in der Nähe des Pfeilers befindet, ermöglicht ihm die Rettung, da er sich schließlich an diesem festhalten kann. Das Ineinander von Rettung und Vernichtung wird fortgesetzt durch das Bild des zusammenstürzenden Gebäudes, infolge dessen eine „zufällige Wölbung“ entsteht, die Jeronimo die Flucht aus der Gefangenschaft ermöglicht – dieser Aufbau zieht sich durch den gesamten Handlungsverlauf.

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