Interpretation "Das Erdbeben in Chili" von Heinrich von Kleist (Seite 4)

Die verschiedenen Deutungen des Erdbebens durch die einzelnen Figuren knüpfen allerdings nicht nur an Kleists Kant-Krise an. Ebenso thematisieren sie die Mitte des 18. Jahrhunderts entbrannte Theodizee-Debatte, worauf bereits der Inhalt der Erzählung hindeutet. Das Erdbeben von Lissabon vom 1. November 1755 erreicht den Rang eines weltgeschichtlichen Ereignisses. In der Geistesgeschichte leitet es insofern eine Wende ein, als die Frage problematisiert wird, inwieweit sich die Katastrophe als Ausdruck eines göttlichen Willens verstehen lässt. Kleist greift diese Debatte auf, allerdings ohne eindeutig Stellung zu beziehen. Der Erzähler gibt die unterschiedlichen Standpunkte der Figuren lediglich wieder, die Präsenz einer das Schicksal leitenden Instanz bleibt offen. Die Existenz eines Gottes wird zwar von den Figuren angenommen, das Eingreifen eines solchen ist im Rahmen der Erzählung allerdings nicht nachweisbar.

Insofern bleibt auch der Leser zurückgeworfen auf Spekulationen bezüglich des von Kleist dargestellten Erdbebens. Ebenso wie die Figuren kann er nur Vermutungen darüber anstellen, was die Naturkatastrophe – respektive die Erzählung – denn nun eigentlich ‚bedeute’.

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