Hölderlins Archipelagus

Es ist Frühling, als der Dichter sich an den "Vater" wendet, ungläubig fast, dass noch, "wie sonst", alle Berge und Inseln an ihrem Platz sind. Der "Vater", das ist der Archipelagus, das Ägäische Meer mit seinen Inseln und Küsten. Aus des Dichters Rede spricht Staunen, und mit ihm ein Entzücken darüber, dass auf die Natur noch Verlaß ist. Sie schwindet nicht dahin wie von Menschen Gebautes, sie bleibt und besteht in steter Erneuerung. Alt und jung zugleich, bewegt sie, als schaffende Kraft, sich in und über der Zeit und gehört so der Sphäre des Göttlichen an. Das Göttliche wiederum ist mit dem Himmlischen verwandt, allein schon im räumlichen Sinn. Die Gestirne, die sich nachts im Wasser spiegeln, tun dies als Teile des göttlichen Ganzen. Der "Himmel" - ob mit oder ohne Anführungszeichen - ist dem Dichter kein vom Natürlichen abgetrennter Bereich. Natürlich und übernatürlich zugleich ist der lebensspendende "Zauber" (Vers 39), der von der Sonne ausgeht, wie auch der aus den Wolken sich ergießende Regen.

Es ist das Wunderbare an der Natur, welches die ersten drei Abschnitte (bis Vers 53 einschl.) in Erinnerung rufen. Staunend und lobsingend, ja frohlockend und doch bei alledem demütig. In einer Demut, die sich nicht negativ in Unterwerfungsgebärden oder Selbstbezichtigung äußert - nichts von Schuld oder Sünde ist hier - sondern im zärtlichen Innewerden des innerlich Geschauten, das in eine sinnlich fühlbare Nähe gerückt wird. Anstatt Distanz zu schaffen, wirkt die Demut verbindend, mit der die preisende Seele das Gepriesene feiert. So wie jedes Einzelne in diesem "Archipelagus" genannten naturhaft-göttlichen Ganzen in freudig begeisterter Demut sein Teil beiträgt zu dem gemeinsamen Wunder.

Dieses Wunder ist "still" und doch tätig. Seine Ruhe ist höchste Aktivität, ganz waches Dasein, das sich Wandel und Wechsel gern unterwirft. Anderem, das zu ihm hinstrebt, dient es zur Orientierung, verleiht es Mut, sich zu offenbaren (vgl. "Seinem Irren enteilt", Vers 49, "Der zu lange sich barg", Vers 51).

Und doch wird der dieses Wunder ermöglichende Gott "trauernd" genannt. Als Gott der "dunklen Tiefen" bedarf er, wie alles Göttliche, der Verehrung. Und dazu sind allein die Menschen befähigt. Die Kultur aber, die dies Göttliche zu sehen, zu fühlen und zu empfinden vermöchte, ist vor zwei Jahrtausenden untergegangen. Das Wunder besteht nur, sofern Menschen da sind, die daran glauben - Menschen, die die in diesem Wunder gestaltgewordene "Liebe" spüren und sie - in begeisterter Demut - als göttlich erkennend verehren. Ohne dies Rühmen bleibt der Gott "einsam", verkommen die "geweihten Elemente" zu banalen Objekten ohne Bezug zum "Herz des fühlenden Menschen". So kann der Zauber nicht wirken.
 
Mit "Sage, wo ist Athen?" (Vers 62) wandelt sich das Gedicht vorerst vom Loblied zur Klage. Zu einer Klage, die bis zum Schluß immer wieder durchschimmern wird, mögen an der Oberfläche auch hellere Töne glänzen. Der Dichter, das lyrische Ich dieses Textes, klagt um das untergegangene Athen, genauer: um die Kultur der Epoche des perikleischen Zeitalters. Es ist, als riebe dies Ich sich die Augen - als könnte die "Asche", zu der die "Säulen" und "Göttergestalten vom Dache der Burg" geworden sind, auch bloß vorübergehende Täuschung sein. In lebhafter Vergegenwärtigung wird das klassische Athen nun - in Worten - tatsächlich wieder lebendig, so sehr wünscht das Ich sich das "Zusammengesunkene" wieder ins Dasein zurück. Nicht nur die Kunst und die Architektur, sondern erst recht die in ihr wohnenden, sie formenden und beseelenden Menschen. Den "fernhinsinnenden Kaufmann" etwa, in dessen Tätigsein die Naturwelt des Archipelagus Menschengeist und -gestalt annahm, indem er "Fernes Nahem vereinte".

Doch die Vergegenwärtigung bleibt bei diesem freundlichen, fast idyllischen Bilde nicht stehen. Das Bild wird zum - historischen - Film, der zunächst die Zerstörung Athens durch die Perser zeigt. Dann die Wende durch die für die Athener siegreiche Seeschlacht von Salamis. Schließlich den Aufbau des klassischen Athen auf den Trümmern des von den Persern zerstörten.

Entscheidend für diesen Umschwung ist der "Genius" (Vers 180), der Geist, der die Menschen dabei leitet und ihnen diese Erfolge ermöglicht. Dieser Geist ist mit dem Zerfall des "zweiten", des klassischen Athen aus der Menschenwelt verschwunden. Und er ist es, der heute, in der Gegenwart des Dichters, von diesem schmerzlich vermißt wird. Sein Fehlen ist Gegenstand der poetischen Klage, die also nicht in romantischer Weise eine vergangene Epoche verklärt und sich in diese zurücksehnt, um aus der Gegenwart dorthin zu entfliehen. Das heutige Fehlen derjenigen seelischen Kräfte, die das perikleische Athen ermöglicht haben, ist es, was den Gott traurig macht und den Dichter zur Klage veranlaßt. Indem er auf das Traurigsein des Gottes hinweist, erinnert der Dichter daran, dass - und hier mag der Archipelagus für die ganze Welt stehen - es der gegenwärtigen Kultur an etwas Entscheidendem mangelt. Zugleich macht er aber auch deutlich, dass diese Kräfte durchaus noch lebendig sind, wenn auch nicht gegenwärtig im Bewußtsein der gegenwärtigen Menschen. Und, in alle Sinne durchdringender Vergegenwärtigung des Kommenden, beschwört er das Bild der Zukunft herauf, in welcher der Gott nicht mehr traurig sein muß:
 
Bis, erwacht vom ängstigen Traum, die Seele den Menschen
Aufgeht, jugendlich froh, und der Liebe seegnender Othem
Wieder, wie vormals oft, bei Hellas blühenden Kindern,
Wehet in neuer Zeit und über freierer Stirne
Uns der Geist der Natur, der fernherwandelnde, wieder
Stilleweilend der Gott in goldnen Wolken erscheinet. (Vers 247 ff.)
 
Damit ist keine bloße Rückkehr zu einem früheren Zustand gemeint. Eher ist an das Erwachen zu denken nach einer Phase des dumpfesten Schlafs. Es soll nicht das Alte, Vergangene wiederkehren, sondern von “neuer Zeit” ist die Rede, die an die “kindliche” Epoche des klassischen Athen lediglich anknüpft. Nicht die Kindheit soll wiederkehren, sondern “der Gott” soll “erscheinen”. Erscheinen kann aber nur, was wahrgenommen wird, sonst wäre es weiter verborgen. Der “trauernde”, weil nicht wahrgenommene Gott kann nur durch die “Liebe” aus seiner Verborgenheit geholt werden, und lieben kann nur eine “jugendlich frohe” Seele. Von diesem Erwachen, davon, dass “die Seele den Menschen aufgeht”, hängt also alles ab.

Dies “Aufgehen der Seele” ist für die Jugendzeit kennzeichnend, in welcher der nicht mehr kindliche Mensch sich erstmals als eigenständiges Individuum orientiert. Es kann aber in späterem Alter ebenso geschehen, Jugendlichkeit der Seele ist nicht an bestimmte Jahre gebunden. Oft genug “erwacht” gerade der reifere Mensch, der eine innerlich leere Phase durchlebt hat, wie “vom ängstigen Traum”.

Dieses Erwachen hat auch etwas Befreiendes, etwa wenn bisher selbstverständlich hingenommene Abhängigkeiten registriert werden - seelische Mechanismen und Fremdbestimmung durch äußere Lebensverhältnisse, unmerkliche Automatisierung des eigenen Daseins, das Aufgehen in bloßer Funktion. Die “freiere Stirn” hingegen ist wieder zu Wechsel und Wandel bereit und weiß sich im Einklang mit dem “Geist der Natur”, der selbst scheinbar Schlimmes wie Abschied, Schmerz, Altern und Sterben mit umfaßt und bejaht. Das menschliche Herz wird wieder “fühlend”, es spürt wieder den Zauber, den das Dasein bedeutet - das Wunder, welches es möglich macht. Die “jugendfrohe” Seele kann (erneut) lieben, und der Gott muß nicht (mehr) traurig sein.
 
Auch und gerade das Ich des Gedichts, der Dichter, weiß sich in solcher Weise gefährdet. Er selbst ist der Heilung durch den “Geist der Natur” bedürftig, das ganze Gedicht ist auch als Selbsttherapie zu lesen. Bereits die ungläubig staunenden Fragen am Anfang lassen eine Verunsicherung ahnen. Der “Frühling”, die Zeit des Umbruchs und der seelischen Erschütterung (“Wenn den Lebenden sich das Herz erneut und die erste/ Liebe den Menschen erwacht”,Vers 6f.), ist innerer Ausgangspunkt alles Folgenden. Von “goldner Zeiten Erinnrung” ist die Rede, was darauf schließen läßt, dass die Gegenwart nicht ganz so “golden” sein kann. In dem mehrmals wiederholten “wie einst/wie sonst/wie vormals”, das sich vordergründig nur auf den Archipelagus bezieht, schwingt eine Melancholie mit, die auf den persönlichen Lebenshintergrund des lyrischen Ich hinweist. Wie sehr dieses Ich in seinem Loben und Rühmen der ersten drei Abschnitte auch gegen die eigene Melancholie anschreibt, deuten Wendungen an wie “vom Abgrund losgelassen”, “die Flamme der Nacht”, “das untere Gewitter”, dunkle Tiefen” (Vers 20 ff.).

Scheinbar nur auf das vulkanische Entstehen und Versinken mancher ägäischer Inseln bezogen, sind diese Formulierungen auch als Hinweise auf die seelische Gefährdung des lyrischen Ich zu lesen. Nicht umsonst nennt es den Archipelagus einen “Vater”, dessen Beständigkeit (“du dauertest aus”) ihm Trost und Halt bedeuten. Entsprechend ist nicht nur der Gott, zu dem das Ich diesen “Vater” erhebt, “trauernd”, sondern dies trifft ebenso auf das lyrische Ich zu, das sich mit seinem Lobpreis, ja womöglich mit der glücklich gelingenden Verfertigung des Gedichts selbst, von dieser Trauer befreien möchte, wobei es sich - im gelingenden Vollzug des poetischen Schreibens - für Augenblicke selbst als geradezu “göttlich” empfinden mag.
 
“Dennoch einsam dünkest du dir; in schweigender Nacht hört
Deine Weheklage der Fels, und öfters entflieht dir
Zürnend von Sterblichen weg die geflügelte Wooge zum Himmel.”
(Vers 54 ff.)
 
In anderem Kontext wären diese drei Verse als dichterisch besonders gelungene Beschreibung des düsteren Seelenzustands eines Menschen zu lesen - und sonst nichts. Einen Hinweis auf mögliche Gründe für das “Zürnen” des Ich könnten folgende Verse enthalten:
 
“Immer bedürfen ja, wie Heroen den Kranz, die geweihten
Elemente zum Ruhm das Herz der fühlenden Menschen.” (Vers 60 f.)
 
Das lyrische Ich, der Dichter, muß den Ruhm noch entbehren, dessen er bedarf “wie Heroen den Kranz”. Der “trauernde Gott” von Vers 64 hätte dann auch mit der Dichterexistenz zu tun: Auch insofern es dichterisch ist, hat dieses Ich Grund zu trauern, und indem es dichtet, schreibt es dagegen an. “Dichterisch” sein meint hier nicht bloß die sozusagen “berufliche” Seite, sondern die ganze Seelenverfassung, die dieses Ich, auch außerhalb der literarischen Sphäre, durchwirkt und zum Dichten befähigt.
 
Wer ist dann aber der “Perse”? “Des Genius Feind” (Vers 86) wird er genannt. Der “Genius” ist oben als der Geist bestimmt worden, der die Athener beim Sieg über die Perser und beim Wiederaufbau der Stadt leitete. Ein “Geist”, der “allen gemein sei”, heißt es gegen Schluß (Vers 240) des Gedichts, als es um die vom Dichter erhoffte Zukunft geht. Diejenige Seelentendenz, die das Gemeinsame, das Verbindende mit allem Lebendigen sucht und empfindet, ist hier gemeint. Eine Art positives Nichts, frei von Ichsucht und dem ständigen Zwang zur Identifizierung. Von “Fesseln der Liebe” spricht das Gedicht an anderer Stelle (Vers 181), welche der Genius “gerne sich schafft” - einer All-Sympathie, die - jenseits von Weichlichkeit - auch zärtlich zupackt und liebevoll zwingt.  

                                                      “und froh und herrlich entquillt es
Seinen Händen und leicht, wie die Sonne, gedeiht das Geschäfft ihm.”
(Vers 186 f.)
 
Das liest sich nun fast wie der Wunschtraum des Dichters, sein poetisches “Geschäfft” betreffend. Mag es das eine wie das andere sein: Beschreibung der Wirkungsweise des Geistes, der das Wunder Athen schuf (so gibt es sich im Text des Gedichts) ebenso wie die ersehnte Seelenverfassung des von Melancholie bedrohten Individuums, das - als zum Dichterischen hin disponiertes - sich seine Seelenheiterkeit erschreiben möchte (ahnend, dass sie anders nicht zu erlangen wäre).
 
Wer ist der “Perse”? Was ist er? “Irrlächelnd” (Vers 126) wird er genannt, er “rollt den Blik”, “droht” und “fleht” - nicht gerade Kennzeichen einer gelassenen Haltung. Sein Tun ist “Frevel”, und worauf er aus ist, ist “Beute”. Aggressivität und mangelnde Selbstkontrolle zeichnen die “persische” Seelenverfassung aus, Materialismus (“eitel Geschmeid”) und Orientierungslosigkeit (“sein irrend Geschwader”) kommen hinzu. Der Gegensatz zum “Genius”, zum “Geist der Natur” ist offenkundig. Der “Perse” wäre mithin die destruktive, vom “Göttlich”-Harmonischen abgewandte Seelentendenz, der Kampf der Athener gegen das Heer des Xerxes kann als die Versinnbildlichung dieses inneren Kampfes zweier widerstreitender Seelenkräfte gesehen werden.
 
“In schwindelnden Traum vom Liede des Tages gesungen” (Vers 125) - die seelische Gefährdung bleibt stets präsent, mag das “Tageslied” noch so hell klingen. Bis ganz zum Schluß des Gedichts bleibt sie spürbar, ja sie hat sogar das letzte Wort. Indem es sich an den “Meergott” wendet - denselben, der zuvor, indem sein Geist auf die kämpfenden Athener überging, siegreich die Perser zurückgejagt hatte - hofft das Ich auf seelische Ausgeglichenheit, sucht es Halt und Orientierung im Geist der “Stille” und “Tiefe” (Vers 296). Einer Tiefe freilich, der das gefährdete Ich “dem Schwimmer gleich” gewachsen sein möchte, “wenn die reißende Zeit mir/ Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Noth und das Irrsaal/ Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert”.

Wie aber kann das Ich dieser Tiefe gewachsen sein, die es einerseits zum Dichterischen befähigt, es andererseits als Individuum zu vernichten droht? Den Schlüssel dazu bietet die Erkenntnis des “Geists der Natur”, die das Verstehen der “Göttersprache” ermöglicht, deren Syntax “das Wechseln und das Werden” ist. Ohne dass es mit dieser “Göttersprache” vertraut wird und selbst in ihr sprechen lernt, so ahnt das Ich, wird es den “persischen” Kräften in seinem Innern auf Dauer nicht standhalten. In schöpferischer Meditation, die im geglückten literarischen Schreiben ganz zu sich selbst kommt und sich dabei zugleich von allem Selbstischen löst, hofft das Ich sich zu stärken - nicht zuletzt durch die damit verbundenen Glücksempfindungen:
 
“Töne mir in der Seele noch oft, daß über den Wassern
Furchtlosrege der Geist, dem Schwimmer gleich, in der Starken
Frischem Glüke sich üb’” (Verse 290 ff.)
 
Der “trauernde Gott” vom Anfang des Gedichts ist auch als der Dichter zu lesen, dessen “Göttersprache” nicht verstanden wird, dessen “Zauber” nicht wirkt. Es fehlen gegenwärtig die Menschen, deren Seelen offen und “jugendlich froh” genug wären, um die in seinen Versen gestaltgewordene “Liebe” zu fühlen. Deshalb auch “dünkt” er sich “einsam” und neigt aus Enttäuschung zu Gewaltausbrüchen (“entflieht dir/ Zürnend von Sterblichen weg die geflügelte Wooge zum Himmel”).
 
Der Archipelagus also, eine geographisch bestimmbare Zone mit einer konkreten Geschichte, ist zugleich “göttliches” Sinnbild der sich ständig erneuernden und dabei doch gleichbleibenden Natur, und zudem Identifikationsobjekt des verunsicherten und nach innerem Halt suchenden Dichters.
 
                                                         “denn oft ergreiffet das Irrsaal
Unter den Sternen mir, wie schaurige Lüfte, den Busen” (Vers 224 ff.)
 
Gegen dieses “Irrsaal”, die depressiven Tendenz in seinem Gemüt, sucht der Dichter Trost und Ermutigung bei den Göttern und Toten. Athen sich zum Vorbild nehmend und daraus für einen Augenblick Kraft und Zuversicht schöpfend, ruft er aus:
 
“Mutter Athene, dir auch, dir wuchs dein herrlicher Hügel
Stolz aus der Trauer empor und blühte noch lange” (Vers 196 f.)
 
Es ist, als versuche er dem depressiven Seelenzustand etwas Positives abzugewinnen, sich davon zumindest nicht entmutigen zu lassen: “Auch” Athen mußte erst eine Phase der “Trauer” durchleiden, mußte zerstört am Boden liegen, um - “des Genius Werk” (Vers 181) - den “herrlichen Hügel” der Akropolis errichten zu können. Solches erhofft der Dichter insgeheim auch für sich selbst, wenn er, der sich selbst einen “Irrenden” (Vers 211) nennt, schon das Los hat, mit “immertrauernder Seele” zu leben.
Dabei fühlt er sich den toten Athenern, denen, die das Wunder des perikleischen Zeitalters mit des “Genius” Hilfe bewerkstelligt haben, näher als den jetzt Lebenden. Ihnen will er ein “ Todtenopfer” spenden, “im schweigenden Thal” möcht er am liebsten “wohnen mit euch”, sie will er “manches fragen”.
 
Mit seinen Zeitgenossen hingegen verbindet ihn nichts:
 
“Aber weh! es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.” (Vers 241 ff.)

Von allem, was für den Dichter das Leben und seinen Zauber ausmacht, kennen und wissen die zeitgenössischen Menschen nichts. Die von ihnen gebildete Gesellschaft ist von Individualismus und Materialismus geprägt, Sinnverlust und Naturferne dominieren, das Leben leidet unter entfremdenden Zwängen. Eher als diesen, die wie Tote leben, ohne tot zu sein, fühlt der Dichter sich den “Kindern des Glüks” (Vers 200) zugehörig, welche die Zeit der Polis Athen erleben durften, und er verspürt die dunkle Tendenz in sich, “daß immertrauernd die Seele/ Vor der Zeit mir hinab zu euren Schatten entfliehe.” (Vers 206 ff.)

So weit, sich ganz in die Schattenwelt zu begeben, will er aber nicht gehen, hofft er doch auf das “Erwachen” der Zeitgenossen und darauf, dass ihnen “die Seele aufgeht”. Das idealisierte Bild der Polis Athen dient ihm als Utopie für die eigene Gesellschaft. Und die “göttliche” All-Natur, die das soziale und ästhetische Wunder Athen möglich machte, sieht er als Garanten dafür, dass dies auch wirklich geschehen werde:
 
“Denn es ruhn die Himmlischen gern am fühlenden Herzen;
Immer, wie sonst, geleiten sie noch die begeisternden Kräfte” (Vers 235 f.)
 
Ja, er glaubt bereits deutliche Zeichen zu vernehmen, dass nach der “Nacht” (Vers 241) bald wieder der “Tag” (Vers 254), ja der “Festtag” anbrechen wird:
 
  “schon hör ich ferne des Festtags
Chorgesang auf grünem Gebirg und das Echo der Haine,
Wo der Jünglinge Brust sich hebt, wo die Seele des Volkes sich
Stillvereint im freieren Lied, zur Ehre des Gottes” (Vers 257 ff.)
 
Hingerissen von seiner eigenen Vision, schaut er bereits als vollendet, was doch erst Aufgabe ist und auf unabsehbare Zeit nicht mehr als ein Ideal sein kann, auf welches das Streben sich hin orientiert:
 
“Denn voll göttlichen Sinns ist alles Leben geworden” (Vers 267).
 
Dieser Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit wird der Dichter am Ende selbst inne, wenn er sich an die lebendige Natur (“Blühet, ihr Gärten Ioniens!”) mit der emphatischen Bitte wendet, sie möge “dem schauenden Tage die Trauer verbergen”, solange der kommende, von All-Harmonie bestimmte “Herbst” noch nicht da ist. Diese nämlich, die Trauer, ist Realität, alles andere ist Wunschfantasie, ist - aus seelisch-elementarer “Noth” heraus - rauschhaft beschworene Harmonie.
 
Als solche liegt sie in diesem Gedicht vor, das der Dichter nun glücklich vollendet hat. Eine Harmonie-Fantasie, die nach dem Vorbild und aus dem Geist der Natur gearbeitet ist. Der Archipelagus steht für die schöpferische Natur, ist zugleich Symbol der unzerstörbaren und sich zyklisch erneuernden und doch stets gleichbleibenden Weltseele. Im Meer, sozusagen dem Herz des Archipelagus, ist diese Seele zur rhythmisch pulsierenden Materie verdichtet. Als solche kann sie auch personifiziert gesehen werden - als “Meergott”.

Aus dem Glauben daran, dass dieser “Meergott” nicht tot, sondern nur traurig ist, erwächst dem Dichter seine Zuversicht - für künftige Generationen, denen ein neuer weltgeschichtlicher “Festtag” bevorsteht. Aber auch für sich selbst, den psychisch Bedrohten, der dieses Fest zwar nicht mehr erleben wird, dem aber das selbstverfaßte geglückte Gedicht als Pfand dafür dient, dass seine Zuversicht nicht grundlos ist.

Den “Woogen” des Meeres gleich, soll es dem Dichter “noch oft in der Seele tönen”, um sein Gemüt zu stärken und ihn gegen “die Noth und das Irrsaal” seines Daseins zu schützen.

Jörg Neugebauer