Ungekürztes Werk "Minna von Barnhelm" von Gotthold Ephraim Lessing
Gotthold Ephraim Lessing
Minna von Barnhelm
oder
Das Soldatenglück
Ein Lustspiel in fünf Aufzügen
verfertiget im Jahre 1763
Minna von Barnhelm
Erster Aufzug, erster bis zwölfter Auftritt;
Zweiter Aufzug, erster bis neunter Auftritt;
Dritter Aufzug, erster bis zwölfter Auftritt;
Vierter Aufzug, erster bis achter Auftritt;
Fünfter Aufzug, erster bis fünfzehnter Auftritt&
Personen
Major von Tellheim, verabschiedet
Minna von Barnhelm
Graf von Bruchsall, ihr Oheim
Franziska, ihr Mädchen
Just, Bedienter des Majors
Paul Werner, gewesener Wachtmeister des Majors
Der Wirt
Eine Dame in Trauer
Ein Feldjäger
Riccaut de la Marlinière
Die Szene ist abwechselnd in dem Saale eines Wirtshauses und einem daranstoßenden Zimmer.
Erster Aufzug
Erster Auftritt
Just sitzet in einem Winkel, schlummert und redet im Traume.
Schurke von einem Wirte! Du uns? – Frisch Bruder! – Schlag zu, Bruder! (Er holt aus und erwacht durch die Bewegung.) Heda! schon wieder? Ich mache kein Auge zu, so schlage ich mich mit ihm herum. Hätte er nur erst die Hälfte von allen den Schlägen! – – Doch sieh, es ist Tag! Ich muß nur bald meinen armen Herrn aufsuchen. Mit meinem Willen soll er keinen Fuß mehr in das vermaledeite Haus setzen. Wo wird er die Nacht zugebracht haben?
Zweiter Auftritt
Der Wirt. Just.
DER WIRT. Guten Morgen, Herr Just, guten Morgen! Ei, schon so früh auf? Oder soll ich sagen: noch so spät auf?
JUST. Sage Er, was Er will.
DER WIRT. Ich sage nichts als »Guten Morgen«; und das verdient doch wohl, daß Herr Just »Großen Dank« darauf sagt?
JUST. Großen Dank!
DER WIRT. Man ist verdrießlich wenn man seine gehörige Ruhe nicht haben kann. Was gilt's, der Herr Major ist nicht nach Hause gekommen, und Er hat hier auf ihn gelauert?
JUST. Was der Mann nicht alles erraten kann!
DER WIRT. Ich vermute, ich vermute.
Just (kehrt sich um und will gehen). Sein Diener!
DER WIRT (hält ihn). Nicht doch, Herr Just!
JUST. Nun gut; nicht Sein Diener!
DER WIRT. Ei, Herr Just! ich will doch nicht hoffen Herr Just, daß Er noch von gestern her böse ist? Wer wird seinen Zorn über Nacht behalten?
JUST. Ich; und über alle folgende Nächte.
DER WIRT. Ist das christlich?
JUST. Ebenso christlich, als einen ehrlichen Mann, der nicht gleich bezahlen kann, aus dem Hause stoßen, auf die Straße werfen.
DER WIRT. Pfui, wer könnte so gottlos sein?
JUST. Ein christlicher Gastwirt. – Meinen Herrn! so einen Mann! so einen Offizier!
DER WIRT. Den hätte ich aus dem Hause gestoßen? auf die Straße geworfen? Dazu habe ich viel zu viel Achtung für einen Offizier und viel zu viel Mitleid mit einem abgedankten! Ich habe ihm aus Not ein ander Zimmer einräumen müssen. – Denke Er nicht mehr daran, Herr Just. (Er ruft in die Szene.) Holla! – Ich will's auf andere Weise wiedergutmachen. (Ein Junge kömmt.) Bring ein Gläschen; Herr Just will ein Gläschen haben; und was Gutes!
JUST. Mache Er sich keine Mühe, Herr Wirt. Der Tropfen soll zu Gift werden, den – Doch ich will nicht schwören; ich bin noch nüchtern!
DER WIRT (zu dem Jungen, der eine Flasche Likör und ein Glas bringt). Gib her; geh! – Nun,