Interpretation "Lyrik in Auswahl" von Johann Wolfgang Goethe

Die Universalität Goethes spiegelt sich, ebenso wie in seinem umfangreichen Gesamtwerk, im Formen- und Themenreichtum seiner Lyrik. Von den gefühlsbestimmten Gedichten seiner Sturm-und-Drang-Zeit bis zur philosophischen Gedankenlyrik des Alters, von volksliednahen Formen über freie Rhythmen bis hin zu klassischer Strenge spannt sich der Bogen des poetischen Ausdrucks seines an allen Erscheinungen des Lebens teilhabenden Geistes.

Als beispielhaft für ein neues Dichtungs-Konzept kann das 1771 entstandene Willkommen und Abschied gelten. Es geht hier um die unmittelbare Darstellung, nicht um die rhetorische Beschreibung von Emotionen, die nicht nur den Inhalt bestimmen, sondern auch in der syntaktischen und metrischen Struktur ihren Niederschlag finden. Die bedrohliche Atmosphäre der ersten beiden Strophen steht in einem Spannungsverhältnis zum 'Thema' des Gedichts, das eine Liebesbegegnung schildert, und weist auf den – dem erotischen Erleben immanenten – Kontrast von Wonne und Schmerz. Goethe macht die Vergänglichkeit zum Gegenstand: der Abschied (und damit ist auch die Vorahnung eines definitiven Abschieds gemeint) überschattet bereits das Geschehen, wahres Glück ist nur in der bedingungslosen Hingabe an den Augenblick erlebbar.

Das Unreflektierte ("es war getan fast eh’ gedacht") als Bedingung glückhafter Erfahrung begegnet uns im idyllisch-naiven Mailied wieder; die Verbindung von Liebe und Tod dominiert hingegen im zum Volkslied gewordenen Heidenröslein.

Vielschichtiger gestaltet sich dieselbe Thematik in der Ballade Der König in Thule. Hinter der scheinbaren Einfachheit verbirgt sich eine komplexe Verschachtelung von Liebes-Symbolen: der Becher als zentrales Motiv lässt die Assoziation mit dem Abendmahls-Kelch als Zeichen des "neuen und ewigen" (Liebes-) Bundes ebenso zu wie mit dem heidnischen Dionysos-Kult; die Relation von Eros und Thanatos wird um die Dimension des Rauschhaften erweitert, die kulturell in der christlichen Nächstenliebe (Agape) und der bacchantischen Ekstase verankert ist. Thule, das mythische Ende der Welt, steht sinnbildhaft für die Erfahrung der 'Entgrenzung'.

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