Interpretation "Lyrik in Auswahl" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 3)

Die Eingebundenheit der menschlichen Existenz in unabänderliche Abläufe kommt bildhaft im Gesang der Geister über den Wassern (1781) zum Ausdruck: "Des Menschen Seele/Gleicht dem Wasser:/Vom Himmel kommt es,/Zum Himmel steigt es,/Und wieder nieder/Zur Erde muß es,/Ewig wechselnd."

Der Vergleich der Schicksalsmächte mit dem Wind, der "vom Grund aus / Schäumende Wogen" mischt, verweist zugleich auf das Ausgeliefertsein des Menschen an unberechenbare Kräfte, die ihrerseits in ihrer Wirkung durchaus zweideutig sind: "Wind ist der Welle lieblicher Buhle."
Diese Ambivalenz von Verführung und Bedrohung ist nirgends so eindringlich gestaltet worden wie in der Ballade Erlkönig. Das Aufeinandertreffen von märchenhaft-phantastischen Elementen in der Vorstellungswelt des Kindes mit den rationalen Erklärungsmustern des Vaters spiegelt den angstbesetzten Umgang des Menschen mit den Grenzbereichen zwischen Intellekt und Natur.

Das Dämonische ist aber nur ein Aspekt in Goethes pantheistischem Weltbild. Die Natur bestimmt als prädominante Instanz sein gesamtes lyrisches Werk und wird in den antik-mediterranen Motiven zur idealisierten Sehnsuchtslandschaft – jenes "Land, wo die Zitronen blühn, / [...] ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht", wo eine Harmonie zwischen den widerstreitenden Prinzipien als möglich erscheint.

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