Interpretation "Lyrik in Auswahl" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 2)

Eine völlig andere Art der Grenzüberschreitung vollzieht sich in der Hymne "Prometheus" von 1774, die als das programmatische Gedicht der Sturm-und-Drang-Bewegung gelten darf. Goethe artikuliert hier die Auflehnungshaltung einer Intellektuellen-Generation gegen bestehende Normen und Werte: "Ich kenne nichts Ärmeres / Unter der Sonn als euch, Götter!" Die Götter stehen für die Autoritäten einer feudal-absolutistisch und klerikal geprägten Gesellschaft, die sich der freien Entfaltung des Individuums repressiv entgegensetzen, ohne aber ihre Machtstellung legitimieren zu können: "Ihr nähret kümmerlich/Von Opfersteuern/Und Gebetshauch/Eure Majestät."

Prometheus als Identifikationsfigur verkörpert allerdings weniger den sozialrevolutionären Rebellen als vielmehr den Typus des Genies, das im künstlerisch-ästhetischen Bereich dem Prinzip der Nachahmung die eigene Kreativität entgegensetzt: "Hier sitz ich, forme Menschen/Nach meinem Bilde."

Goethe erkennt später allerdings sehr wohl die Problematik solcher selbstherrlich-narzisstischen Allmachts-Phantasien. Die Vorstellung des Künstlers als gottähnliche Instanz findet ihre Grenzen in der – nicht zuletzt während seiner ersten Weimarer Phase erfahrenen – Lebenswirklichkeit. Geradezu als Gegenstück zur Figur des Prometheus erscheint diejenige des Zauberlehrlings in der gleichnamigen Ballade aus dem Jahr 1797: Dessen eigenmächtiger Versuch, es dem "alte[n] Meister" gleichzutun, erweist sich nicht nur als pubertärer Streich, sondern auch als Eingriff in Gesetzmäßigkeiten, über die er keine Gewalt hat. Die aus der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten entstehende Hybris führt zur Verkennung der Realität und birgt die Gefahr der Selbstzerstörung.

"Denn mit Göttern / Soll sich nicht messen / Irgendein Mensch", heißt es bereits 1781 im Gedicht Grenzen der Menschheit, in welchem das in Prometheus formulierte Dichtungs- und Lebenskonzept explizit widerrufen wird.

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