Interpretation "Amerika" von Franz Kafka (Seite 2)
Für Karl bleibt es letztlich rätselhaft, warum der Onkel auf diese Weise reagiert hat. Doch liegt es auf der Hand, dass der Onkel ein pathologischer Tyrann ist, der die geringste Auflehnung gegen seinen Willen, auch gegen seinen unausgesprochenen, so brutal wie möglich bestraft. Der Zweck der Einladung des Herrn Pollunder bleibt ebenso verborgen wie die Motive des Onkels. Pollunder will offensichtich, dass Karl seine Tochter kennenlernt. Was er damit bezweckt und was die Tochter eigentlich von Karl will, bleibt rätselhaft. Teilweise sieht es so aus, als hätte die Tochter ein sexuelles Interesse an Karl, der eine Zeitlang in Gefahr zu sein scheint, zum zweiten Mal von einer Frau vergewaltigt zu werden. Andererseits hat sie ein Verhältnis mit Karls Bekanntem Mack, den sie in Kürze heiraten möchte, was wiederum gegen die Hypothese spricht, ihr Verhalten sei von erotischem Interesse bestimmt. Auf diese Weise kommt weder der Held noch der Leser hinter die eigentlichen Beweggründe für das Verhalten der Figuren.
Viel weniger rätselhaft als diese Oberschicht-Amerikaner sind dagegen die Vagabunden Robinson und Delamarche. Zunächst geht es ihnen darum, Karl nach Kräften auszunehmen. Karl bemerkt ihre Absicht und hat zum zweiten Mal Glück, als ihn die Oberköchin des Hotels Occidental aufnimmt. Max Brod hat bemerkt, dass manche Szenen in Amerika an die Filme von Charlie Chaplin erinnern. Deutlich wird die Parallele, wenn man an die Fabrikarbeit Charlies in Modern Times und Karl Roßmanns Tätigkeit als Liftboy denkt. Die Bedienung der modernen Technik wird bei Chaplin wie bei Kafka zu einer unmenschlichen Aufgabe, die das Subjekt zwingt, selbst wie eine Maschine zu funktionieren. Dass Karl entlassen wird, weil er für zwei Minuten seine Arbeitsstelle verlassen hat, nachdem er bereits zwei Monate lang seinen Dienst tadellos versehen hat, ist ein Beispiel für die unmenschliche Strenge, mit der alle kafkaschen Helden konfrontiert werden.
Das Hotel hat damit einen ähnlichen Status wie die Behörden im Prozeß und im Schloß, nur dass es hier kapitalistische Betriebe statt bürokratischer Anstalten sind, die als Machtinstanzen dem Helden gegenübertreten. Doch auch wenn die Brutalität offensichtlicher ist und in sogar Handgreiflichkeiten mündet, ist der Machtapparat in Amerika weniger furchteinflößend als in den anderen Romanen Kafkas. Es fehlt die Anonymität. Die Träger der Macht sind sichtbare Menschen aus Fleisch und Blut. Die Tyrannei ist unmittelbarer und impulsiver und geht stärker vom einzelnen Individuum aus als von einem anonymen Apparat.