Ungekürztes Werk "Das Wirtshaus im Spessart" von Wilhelm Hauff (Seite 4)

sie gehört von Wanderern, die man im Schlaf überfallen und gemordet hatte; und sollte es auch nicht an ihr Leben gehen, so war doch ein Teil der Gäste in der Waldschenke von so beschränkten Mitteln, daß ihnen ein Raub an einem Teil ihrer Habe sehr empfindlich gewesen wäre. Sie schauten verdrießlich und düster in ihre Gläser. Der junge Herr wünschte, auf seinem Roß durch ein sicheres, offenes Tal zu traben; der Zirkelschmied wünschte sich zwölf seiner handfesten Kameraden, mit Knütteln bewaffnet, als Leibgarde; Felix, dem Goldarbeiter, war bange – mehr um den Schmuck seiner Wohltäterin als um sein Leben –; der Fuhrmann aber, der einige Male den Rauch seiner Pfeife nachdenklich vor sich hingeblasen, sprach leise: »Ihr Herren, im Schlaf wenigstens sollen sie uns nicht überfallen. Ich für meinen Teil will, wenn nur noch einer mit mir hält, die ganze Nacht wach bleiben.«

»Das will ich auch ...«

»Ich auch!« riefen die drei übrigen.

»Schlafen könnte ich doch nicht«, setzte der junge Herr hinzu.

»Nun, so wollen wir etwas treiben, daß wir wach bleiben«, sagte der Fuhrmann; »ich denke, weil wir doch gerade zu viert sind, könnten wir Karten spielen, das hält wach und vertreibt die Zeit.«

»Ich spiele niemals Karten«, erwiderte der junge Herr, »darum kann ich wenigstens nicht mithalten.«

»Und ich kenne die Karten gar nicht«, setzte Felix hinzu.

»Was können wir denn aber anfangen, wenn wir nicht spielen?« sprach der Zirkelschmied. »Singen? Das geht nicht und würde nur das Gesindel herbeilocken. Einander Rätsel und Sprüche aufgeben zum Erraten? Das dauert auch nicht lange. Wißt ihr was? Wie wäre es, wenn wir uns etwas erzählten? Lustig oder ernsthaft, wahr oder erdacht – es hält doch wach und vertreibt die Zeit so gut wie Kartenspiel.«

»Ich bin's zufrieden, wenn Ihr anfangen wollt«, sagte der junge Herr lächelnd. »Ihr Herren vom Handwerk kommt in allen Ländern herum und könnt schon etwas erzählen; hat doch jede Stadt ihre eigenen Sagen und Geschichten.«

»Ja, ja, man hört manches«, erwiderte der Zirkelschmied. »Dafür studieren Herren wie Ihr fleißig in den Büchern, wo gar wundervolle Sachen geschrieben stehen; da wüßtet Ihr noch Klügeres und Schöneres zu erzählen als ein schlichter Handwerksbursche wie unsereiner. Mich müßte alles trügen, oder Ihr seid ein Student, ein Gelehrter.«

»Ein Gelehrter nicht«, lächelte der junge Herr; »wohl aber ein Student und will in den Ferien nach der Heimat reisen; doch was in unseren Büchern steht, eignet sich weniger zum Erzählen, als was Ihr hier und dort gehört. Darum hebt immer an, wenn anders diese da gerne zuhören.«

»Noch höher als Kartenspiel«, erwiderte der Fuhrmann, »gilt bei mir, wenn einer eine schöne Geschichte erzählt. Oft fahre ich auf der Landstraße lieber im elendsten Schritt und höre einem zu, der nebenhergeht und etwas Schönes erzählt; manchen habe ich schon im schlechten Wetter auf den Karren genommen, unter der Bedingung, daß er etwas erzähle, und einen Kameraden von mir habe ich, glaube ich, nur deswegen so lieb, weil er Geschichten weiß, die sieben Stunden lang und länger dauern.«

»So geht es auch mir«, setzte der junge Goldarbeiter hinzu. »Erzählen höre ich für mein Leben

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