Interpretation: "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 4)

Lorenzen äußert diese Ansichten in einem Gespräch mit Melusine, auf das diese in ihren letzten, den Roman beschließenden Worten Bezug nimmt. Die Figur der Melusine ist zweifellos eine der schillerndsten, interessantesten Frauenfiguren, die Fontane je geschaffen hat. Ohne es zu wollen, bringt sie die Domina Adelheid gegen sich auf: "diese Melusine ist eben eine richtige Melusine", an der alles verführerisch und gefährlich sei. Mit dem Namen Melusine ist ein Bezug zum See Stechlin und damit zum Titel hergestellt, denn Melusine ist der Name einer sagenhaften Wasserfee, deren Körper in einem Fischschwanz endet. Eine solche 'Nähe zum Wasser' drückt sich in allem aus, was sie über den Stechlin-See sagt. Für sie ist der See Ausdruck und Verkörperung der Tugenden, auf die es im menschlichen Leben ankommt: "Wir kommen eben von ihrem Stechlin her, von Ihrem See, dem Besten, was sie hier haben. Ich habe mich dagegen gewehrt, als das Eis aufgeschlagen werden sollte, denn alles Eingreifen oder auch nur Einblicken in das, was sich verbirgt, erschreckt mich. Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen, heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod."

Wenn der alte Stechlin von seinem See scherzhaft sagt, dass er, "wenn’s sein muß, mit Java telephoniert", dann schreibt er ihm Fähigkeiten der allermodernsten Technik zu (die er selbst gar nicht so sehr schätzt, wie aus seinen Bemerkungen über die Telegraphie deutlich wird). Die Natur, die schon vor den Menschen da war, hat also die Errungenschaften der menschlichen Kultur bereits vorweggenommen; sie umfasst das Alte und das Neue. Und sie ist das Gegenbeispiel zu der gefährlichen Tendenz, zu der Teile des Adels neigen, nämlich zu der Tendenz, sich abzuschließen vom Rest der Welt.

"[...] es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin", lautet der letzte Satz in Theodor Fontanes letztem Roman. Die Stechline sind die Vertreter des Adels, der im Begriff ist, mit dem Anbruch der Moderne seine politische Rolle zu verlieren und in die Bedeutungslosigkeit abzusinken. Ein naturgegebenes Prinzip der Teilhabe der kleinen, märkischen Welt an der großen Welt jenseits des Horizonts soll den Adel überleben. Dieses natürliche Prinzip, das jenseits aller menschlichen Errungenschaften und Veränderungen steht, soll Gegenstand der Liebe und der Verehrung sein, nicht die wandelbaren sozialen Gebilde der Menschen.

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