Interpretation "Also sprach Zarathustra" von Friedrich Nietzsche (Seite 3)

Also fordert Nietzsche den neuen Menschen – einen Neubeginn aus sich selbst, ähnlich dem der Natur im Sinne der griechischen physis, demjenigen, das aus sich selbst ist.

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.

Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.

Ein Spiel, eine Bewegung aus sich selbst, ist auch der Zarathustra-Text, der von einer irritierenden Offenheit der Gedanken und der Sprache gekennzeichnet ist. Er präsentiert kein geschlossenes System, keine logisch aufbauende Argumentation, die ableitend und folgernd darlegen will. Satz für Satz, Absatz für Absatz wird der Leser mit Behauptungen und Gedanken konfrontiert, die einander teils stützen, sich teils wiederholen oder manchmal sogar widersprechen. Leerstellen dominieren den Text: Paradoxa, Diskontinuitäten, unverbunden Nebeneinandergestelltes, Rätselfiguren ergeben eine Zeichenvielfalt, die immer in Bewegung ist. "Man teilt sich nie Gedanken mit: man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden", so Nietzsche. Er schafft eine Dynamik der Begriffe, denen von keinem religiösen oder ideologischen Zentrum mehr eine feste Bedeutung zugewiesen wird und die nun – befreit – immer in Gefahr sind, in die endgültige Sinnlosigkeit abzugleiten: Es ist ein subversiver Akt, der sich letztlich auch gegen das Buch selbst richtet. Der Bedeutungsgehalt der Worte und Bilder ändert sich je nach Funktion und Zusammenhang. Was bleibt, ist Unbestimmtheit, Bewegung und ständiger Übergang, Grenzen, deren Funktion darin besteht, überschritten zu werden.

Ein Gesamtkunstwerk ist der Zarathustra, freilich ein monologisches; Nietzsche kann den romantischen Grund, der auch ihn bestimmt, nicht verhehlen. Das Problem des Künstlers als das eines individualistischen, subjektiven Geistes, das die Ästhetik von der Romantik bis hinein ins 20. Jahrhundert bestimmt, findet ein großes Beispiel im Zarathustra. Dabei gelingen Nietzsche Passagen wie z. B. das Nachtlied, die zum Schönsten gehören, was die deutsche Literatur zu bieten hat.

"Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen [...] Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden [...] Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe [...] Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht [...] Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit [...] Nacht ist es: ach daß ich Licht sein muß! Und Durst nach Nächtigem! Und Einsamkeit! [...]"

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