Interpretation "Irrungen, Wirrungen" von Theodor Fontane (Seite 2)

Konsequenterweise entwickelt Lene keine Zukunftsvisionen, dafür aber auch keine Schuldgefühle: "Alles war mein freier Entschluß. Ich habe dich von Herzen liebgehabt, [...] und wenn es eine Schuld war, so war es meine Schuld. Und noch dazu eine Schuld, derer ich mich [...] von ganzer Seele freue, denn sie war mein Glück."

Indem sie keinerlei Erwartungen hegt, ist sie in der Lage, den Augenblick, d. h., die Nähe zu Botho ohne Einschränkung auszukosten. Hier allerdings unterscheidet sich Lene radikal von ihren Standesgenossinen. Während in den Figuren der Frau Dörr oder der Begleiterinnen von Bothos Freunden ein für die damalige Zeit durchaus häufiger Typus der Geliebten gezeichnet ist, der in einer Liason mit einem Adligen in erster Linie finanzielle Vorteile sieht, zählt für Lene ausschließlich die emotionale Nähe: "'Jott, Kind, Sie verfärben sich ja; Sie sind wohl am Ende mit hier dabei' – und sie wies aufs Herz – 'und tun alles aus Liebe' Ja, Kind, denn is es schlimm, denn gibt es ’nen Kladderadatsch.'"

Mit ihrer nicht berechnenden Hingabe durchbricht sie die gängigen Verhaltensmuster also in zweifacher Hinsicht; die 'Echtheit' ihrer Liebe – die sich auch am völligen Fehlen eines Besitzanspruchs ablesen lässt ("wegfliegen wirst du, das seh’ ich klar und gewiß") – erscheint im gegebenen gesellschaftlichen Kontext als Ver-Irrung. Es verwundert daher nicht, dass für Botho Lenes "Einfachheit, Wahrheit, Natürlichkeit" die entscheidenden Charaktermerkmale sind, die es ihm angetan haben. Es muss jedoch befremden, daß er diese Eigenschaften explizit als Kleinigkeiten bezeichnet, und wirft die Frage auf, wie ernst seine Gefühle überhaupt genommen werden können.

Auffallend ist seine Reaktion auf den Brief der Mutter: "Dacht’ ich’s doch... Ich weiß schon, eh ich gelesen. Arme Lene." Ohne jeden Anflug von Bestürzung nimmt er das Ende seiner Beziehung als gegeben hin. Dass sein Mitleidsausruf nur Lene gilt, deutet darauf hin, dass ihm selber die neue Lage gar nicht so unangenehm sein kann. Zweifellos empfindet Botho für Lene echte Zuneigung, die er während seines anschließenden Ausritts noch einmal ausspricht ("Weil ich sie liebe"), doch zeigt gerade seine Art der Auseinandersetzung mit der bevorstehenden Trennung, wie wenig er tatsächlich 'leidet'. Ein unglücklich Liebender führt keine derartigen inneren Monologe zu Pferde: Statt eines Aufschreis der Verzweiflung erfolgt hier wortreiches Räsonnieren über das Scheitern seiner Liebe.

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